Thomas Glavinic: Das größere Wunder (Hanser)

Das größere Wunder

Dieses Ende. Leider.

"Das größere Wunder" erzählt die (Lebens-)Geschichte des eigenwilligen, eigenartigen und sehr intelligenten Jonas, der von seiner Mutter vernachlässigt und ihren Freunden misshandelt wurde und schließlich von einem seltsamen Millionär namens Picco adoptiert wird, der ihn, Jonas' behinderten Zwillingsbruder Mike und den eigenen Enkel Werner auf einem herrschaftlichen Anwesen in Österreich großzieht, was er allerdings weitgehend den Kindern selbst überlässt. Das Leben der drei, vor allem der  - im direkten Wortsinn - Brüder im Geiste Jonas und Werner kennt nur wenige Regeln und praktisch keine Tabus.  Das Sammeln von Erfahrungen und das Ausloten eigener Limits sind Tagesprogramm. Dazu gehören die Liebe und auch die Begegnung mit dem Tod. Die Jungs erleben sogar Hinrichtungen mit, denn Picco, dessen Geschäfte vermutlich nicht ganz sauber sind, praktiziert eine sehr persönliche Form von Gerechtigkeit. Die Kinder jedoch liebt er mit großer Hingabe.

Später erbt Jonas Piccos Vermögen und beginnt eine atemlose Odyssee um die Welt, erlebt ihre Wunder und Abgründe. Seine finanzielle Freiheit ist ebenso maßlos wie sein Wille, die Grenzen der Existenz zu erfahren, die Bedeutung der eigenen Person zu entschlüsseln. Ob in der mehrjährigen Eremitage in einer kleinen Wohnung in Rom oder als Besitzer einer Südseeinsel, auf der er in infernalischer Lautstärke Musik hört - Jonas kann und will alles ausprobieren. Am vorläufigen Ende steht der Versuch, den Mount Everest zu besteigen, wovon über das gesamte Buch hinweg in einer Parallelhandlung erzählt wird. Sehr anschaulich berichtet Thomas Glavinic vom seltsamen Massentourismus am welthöchsten Berg, von Kälte, Angst, Schmerz, von der mühseligen Gewöhnung an die große Höhe und den absurden Vorgängen dort.

"Das größere Wunder" ist so vortrefflich erzählt, dass man Glavinic sogar die merkwürdigsten Eigenartigkeiten abnimmt, das Buch ist spannend und im besten Sinn originell. Leider nur gibt es da dieses Ende, das zwar konsequent und praktisch alternativlos ist, im Vergleich zum Rest aber seltsam dürftig und nachlässig wirkt. Als hätte man wochenlang versucht, einen Berg zu besteigen, um an dessen Gipfel eine Busstation vorzufinden. Hiervon abgesehen aber gehört der Roman fraglos zu den besten dieses Jahres.

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