Super Sad True Love Story. Roman.
Gary Shteyngart, Rowohlt 2013


Super Sad True Love Story

Tragikomische, brilliant erzählte Dystopie

Lenny Abramov ist Ende dreißig, und als er nach einem Auslandsjahr - Rom, Italien - in das zurückkehrt, was von den Vereinigten Staaten noch übrig ist, muss er feststellen, zum sehr alten Eisen zu gehören. Dies umso mehr, da er für "Posthumane Dienstleistungen" arbeitet, eine Unternehmung des "Wapachung"-Konzerns, der sich mit wenigen anderen Monopolisten das bisschen Industrie teilt, das noch in den USA agiert. "Posthumane Dienstleistungen" bietet unter anderem "Dechronifizierung" an, also die Verjüngung seiner betuchten Klienten. Lennys Aufgabe bestand während des vergangenen Jahres darin, in Europa neue Kunden zu suchen, aber er hat keine gefunden. Halb so wild, denn Chef der Firma ist Lennys Langzeitkumpel Joshie, der zwar weitere dreißig Jahre älter ist, aber wie ein Teenager aussieht - unter anderem, weil durch seine Venen nanomaschinengesteuertes "SmartBlood" pulsiert, das von selbst fließt, weshalb perspektivisch kein Herz mehr benötigt wird. Was metaphorisch für die gesamte Zukunft steht, die Shteyngart hier skizziert.

Lenny hat in Italien die fast zwanzig Jahre jüngere Eunice Park kennengelernt, die Tochter koreanischer USA-Immigranten, und Lenny ist verliebt, weshalb es auch nicht so schmerzt, dass sein Name trotz der Freundschaft zu Joshie nicht mehr auf jenen Anzeigetafeln vorzufinden ist, die den "Posthumane Dienstleistungen"-Mitarbeitern anzeigen, welchen Status sie in der Firma derzeit innehaben, etwa "kooperativ, aber zurückhaltend". Denn in Abramovs Amerika ist sowieso alles anders, und dann doch wieder nicht so sehr: Shteyngarts zwingender Nahzukunftsentwurf denkt die Gegenwart in einer Konsequenz fort, dass einem beim Lesen Angst und Bange werden kann. Was in Amerika noch halbwegs Rendite abwirft, gehört zu den Sparten "Konsum" oder "Kredit". Alle Menschen laufen mit "Äppäräten" (die auch im englischen Original so heißen) herum, multidimensionalen Kommunikationsgeräten, die bis zum intimsten Detail jederzeit alles über jeden verraten - was vielleicht noch fehlt, krakehlen "Kreditmasten" in die Welt, die beim Passieren das Rating der Passanten anzeigen. Überhaupt wird alles - von der sexuellen Potenz bis eben zur Bonität - "geratet" und bewertet, die Bürger sind gläsern und auch optisch transparent: Zur aktuellen Mode gehören "Onionskin"-Jeans, die schlicht völlig durchsichtig sind. Kommunikation ist offen und via "GlobalTeens" monopolisiert, aber man schreibt oder liest nicht, sondern man streamt, scannt oder textet; Schriftsprache beherrscht fast niemand mehr. Das letzte gedruckte Buch ist vor so langer Zeit erschienen, dass sich kaum noch jemand erinnert, weshalb Lennys sorgfältig gepflegte Bibliothek bei Besuchern amüsiertes Staunen hervorruft. Man betastet die Cover und wundert sich über den unfrischen Geruch.

In dieser Welt mit ihrer Tabulosigkeit, ihrem Jugendlichkeitswahn, ihrem kulturellen Raubbau und ihrer grenzenlosen Transparenz, die keineswegs mit mehr Wissen, sondern eher mit egozentrischem Desinteresse einhergeht, ist der achtunddreißig Jahre alte Lenny Abramov ein Anachronismus. Die Liebe zur zarten, klugen und verunsicherten Eunice Park, die ihm hinterherreist und auch bei ihm einzieht, verschafft ihm eine kurze Periode der Frische, verbunden aber mit der Gewissheit, ein Auslaufmodell zu sein, Eunice bald wieder zu verlieren und in dieser Welt ohnehin nichts mehr zu suchen zu haben. Ulkigerweise gilt das für diese Welt selbst auch; Amerika rangiert inzwischen weit hinter ehemaligen Schwellenländern, der Dollar ist an den chinesischen  Yuan gekoppelt, die Musik spielt anderswo, etwa in Norwegen, SicherheitsKanada oder HeiligPetrolRussland (und, natürlich, in China, angeführt von der Kapitalistischen Volkspartei). Wer die Staaten genau regiert, weiß niemand so recht, aber es ist auch egal, weil die wenigen Konzerne das Geschehen bestimmen - auch das militärische. Und die Bürger interessiert sowieso höchstens, was die neuen Onionskins bei "AssLuxury" kosten. Oder ob sie einen schmalen Job im Konsum bekommen können, nach dem erfolgreichen Studium so spektakulärer Fachrichtungen wie "Images und Selbstsicherheit". Die Alternative besteht darin, zu den "Vermögensschwachen" zu gehören, die in Zeltstädten die Parks von Manhattan bevölkern und argwöhnisch von "WapachungKrise" beobachtet werden.

"Super Sad True Love Story" besteht aus Lennys Tagebucheinträgen und der GlobalTeens-Kommunikation von Eunice Park. Schon die fast beiläufig vermittelte, authentische Gegensätzlichkeit dieser Modelle macht das Buch lesenswert, aber in jedem Kapitel, jedem Abschnitt, jedem Satz stecken so viele Ideen und Weisheiten, dass es einem den Atem raubt. Zumal dies mit der unangenehmen Gewissheit einhergeht, eine Perspektive dessen wahrzunehmen, woran wir derzeit alle arbeiten: Wenige Konzerne, die die Kommunikation beherrschen, angetrieben vom nihilistischen Mitteilungsrausch der Menschen, einem grenzenlosen Konsumdrang und einer streng profitorientierten Globalisierung, fokussiert in einem Menschenbild, an dessen Ende lediglich ein renditebringender Datenknoten steht, der jederzeit durch irgendeinen anderen ersetzt werden kann. Es mag sein, dass einige der Technologien, mit denen sich Lenny Abramov auf naiv-konservative Weise auseinandersetzt, noch Zukunftsmusik sind, aber die Töne, aus denen sie komponiert wird, gibt es jetzt schon. Und die Dirigenten stehen auch bereits am Pult.

Ich bin an dieses Buch, das im Jahr 2010 publiziert wurde und recht erfolgreich war, erst über Shteyngarts kürzlich erschienene Autobiografie "Kleiner Versager" geraten, und das war ein Glück. "Super Sad True Love Story" ist trotz des auf den ersten Blick recht blöden Titels (der aber im Roman seine Erklärung findet) eines der besten Bücher, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe.

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ROMAN.
rororo, 28. August 2015


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