Die schwangere Witwe. Roman
Martin Amis, Hanser, Februar 2012


Die schwangere Witwe

Wahrhaft schön

Keith Nearing ist Anfang zwanzig, und er wird diesen Sommer zusammen mit einigen anderen britischen Twens - zumeist aus der Upper Class - in einem Schloss in Italien verbringen. Dabei ist auch Lily, mit der er etwas hatte und dann wieder nicht, weil Lily ausprobieren wollte, wie es ist, sich wie ein Junge zu verhalten, um aber während des Urlaubs wieder die Beziehung zu pflegen. Wir schreiben die Siebziger; die sexuelle Revolution verändert alles, verwandelt die Jugendlichen in triebbeherrschte Menschen, die aber nicht so recht wissen, wie der Trieb zu kanalisieren ist - oder ob er überhaupt in dieser Form existiert. Man probiert aus und reflektiert vieles, überraschenderweise spielt die Lust zuweilen eine eher untergeordnete Rolle - der Sex ist Selbstzweck, fast etwas, das man unbedingt tun muss, ohne immer zu wissen, warum eigentlich. Keith interessiert sich aber kaum für Lily, zu der die Beziehung längst geschwisterliche Aspekte entwickelt hat, sondern vor allem für die wunderschöne Scheherezade, ein Mädchen, das soeben den Schritt zur Frau absolviert hat, und die die mauerblümchenhafte Lily sprichwörtlich in den Schatten stellt, was diese wiederum stark umtreibt, denn die Nutznießer der Revolution sind vor allem die wirklich Schönen, seltener die "Mitteldinger". Nach und nach treffen weitere Freunde und Bekannte ein (was leider nicht immer gut, manchmal überhaupt nicht zu überschauen ist), etwa Gloria Beautyman, die zunächst burschikos wirkt und sich nicht recht an der Revolution zu beteiligen scheint. Oder ein mikrosomer, schwerreicher Italiener namens Adriano, der sich unsterblich in die hochgewachsene Scheherezade verliebt, um sie fortan mit allen erdenklichen Mitteln zu bezirzen, wenn er sich nicht gerade bei einem Risikosport-Kurztrip neue Verletzungen abholt.

In einem zweiten Erzählstrang erleben wir Keith im Jahr 2006, nunmehr über fünfzig und zum dritten Mal verheiratet - mit wem, das erfahren wir erst ganz am Ende, denn alle drei Ehen haben unmittelbar mit den Geschehnissen im Sommer 1970 zu tun. Der fünfzigjährige Keith denkt viel über das Altern nach; von der Leichtigkeit, die eigentlich nur wenig von Leichtsinnigkeit hatte, ist kaum noch etwas zu spüren.

Martin Amis hat mit diesem sehr dialogorientierten und häufig wunderbar klugen, akribisch aufgebauten Roman zu alter Klasse zurückgefunden ("Gier", "1999 - London Fields"), was vor allem nach dem enttäuschenden "Yellow Dog" überrascht und erfreut. "Die schwangere Witwe" zeichnet eine präzise Skizze zum einen jener Zeit, in der sich eine völlig neue Weltsicht eröffnete, was nicht wenige der Protagonisten stark überforderte. So nutzt Keith Nearing, der Ambitionen hat, Literaturkritiker zu werden, die großen britischen Romane der vergangenen Jahrhunderte, um seine eigene, ständigen Veränderungen unterworfene Gefühlswelt zu verorten, denn Hilfe von außen ist nicht zu erwarten. Er verkörpert dieserart das Dumme im Schlauen (und umgekehrt), ringt um Verstehen und stolpert doch wieder in Fallen, die er eigentlich anderen gestellt hatte - hauptsächlich Lily, die nichts von seinen Versuchen, Scheherezade zu gewinnen, mitbekommen soll. Zum anderen reflektiert der alte, allerdings hin und wieder etwas konturlose Keith auf ganz wundervolle Weise die bevorstehende Restzeit und das Vermächtnis der eigenen Jugend, metaphorisch also jene titelgebende schwangere Witwe.  Das pittoreske, amüsante, ganz selten etwas zähe Geschehen im sommerlichen Schloss, eingefasst in hinreißende Dialoge vor allem zwischen Keith und Lily, entwickelt große Wucht und Nähe. Die kleinen wie großen Konflikte, die Überraschungen und selten vorhersehbaren Wendungen - all das hat zwar etwas Kammerspielartiges, ist aber von so feinem, intelligenten Humor durchsetzt, dass es schlicht begeistert. Nicht zu vergessen Amis' sehr eigenwillige Erzählsprache, die ohnehin immer - sogar bei "Yellow Dog" - zu vereinnahmen vermag, auch wenn der Plot mal danebengeht. Was in "Die schwangere Witwe" keineswegs der Fall ist.

Ein guter, nein, ein wahrhaft schöner Roman, originell, leichtfüßig und mit großer, niemals oberlehrerhafter Intelligenz verfasst. Ein zeitgeschichtliches Dokument und zugleich eine sehr lakonische Abrechnung. Danke, Martin Amis.

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