Wenn das Schlachten vorbei ist. Roman.
T. C. Boyle, HC, Hanser 2012
Die Wucht der Akribie
Vorweg: Die deutsche Fassung dieses Romans mit dem Originaltitel "When the killing is done" müsste eigentlich "Wenn das Töten vorbei/erledigt ist" heißen, denn eine Schlachtung ist ein Prozess, der die Aufbereitung des getöteten Tiers als Nahrung folgt, und genau darum geht es im neuen Boyle nicht. Die Tiere, die im Buch getötet werden, werden nicht geschlachtet.
Es geht um invasive Tierarten, um Eindringlinge, die Ökosysteme gefährden. Auf den "Chanel Islands" vor der kalifornischen Küste haben sich Ratten und wilde Schweine vermehrt, wodurch die einheimischen Tierarten gefährdet sind. Die Ratten brachte ein im neunzehnten Jahrhundert havariertes Schiff, die Schweine wurden eine Zeit lang gezüchtet und dann schlicht vergessen - Ratten und Schweinen ist gemein, dass sie robust sind und nicht viel Aufhebens bei ihrer Nahrungsauswahl machen. Im Auftrag des "Park Services" ist die engagierte Wissenschaftlerin Alma Boyd Takesue damit befasst, Programme, die die Vernichtung der Eindringlinge zur Folge haben sollen, auszuarbeiten, der Öffentlichkeit schmackhaft zu machen und schließlich umzusetzen - die Ratten sollen vergiftet werden, die Schweine bejagt. Ihr steht der Elektronikhändler Dave LaJoy gegenüber, der eine Tierschutzorganisation gegründet hat und den Standpunkt vertritt, jedes Töten sei verwerflich, ganz egal, ob es um die tägliche Ernährung, marodierende Ratten oder wilde Schweine geht. Sein beharrlicher Protest - auch mit illegalen Mitteln - ist der Dorn im Fleisch der Wissenschaftlerin.
Ein "apokalyptischer Roman", wie der Klappentext verspricht, ist dieses Buch höchstens am Rande, denn die Nöte des Planeten und Themen wie Überbevölkerung oder industrielle Tierhaltung spielen zwar ihre Rollen, aber der Mikrokosmos der Protagonisten und ihr auf die Inselgruppe konzentriertes Engagement stehen im Vordergrund. Die Felsinseln vor Santa Barbara - vor allem Anacapa und Santa Cruz - kann man zwar durchaus als Metaphern für den Umgang der Menschen mit der Umwelt verstehen, aber eigentlich ist "Wenn das Schlachten vorbei ist" - wieder einmal - vor allem Biographie und nebenbei zeitgeschichtliches Dokument. Bei ersterem allerdings hat sich Boyle selbst übertroffen, denn die Eindringlichkeit, mit der er seine Hauptfiguren zeichnet, nimmt einem in ihrer Wucht fast den Atem. Alma, die ihren Job machen will, wobei ihr Privatleben den Bach heruntergeht, und die die Moral ebenso auf ihrer Seite sieht wie LaJoy, der mit cholerischen Anfällen zu kämpfen hat und in seinem Wahn nicht selten weit übers Ziel hinausschießt - die Figuren werden in einer detaillierten Ausgiebigkeit entwickelt, die an Akribie grenzt, und jede Wahrnehmung, jede Gefühlsregung wird (be)greifbar. Beide sind eigentlich Gutmenschen, im positiven wie im sarkastischen Sinn des Wortes, und man folgt ihnen gebannt bei ihren kleinen Siegen, großen Fehlentscheidungen und unausweichlichen Niederlagen. Boyle lässt sich viel Zeit, um Vorgeschichten und Familienvitae zu erzählen, woraus sich die - genau genommen nicht unähnlichen - moralischen Standpunkte und Motivationen erklären: Takesue und LaJoy wollen eigentlich dasselbe, nämlich Eingriffe des Menschen in Ökosysteme verhindern (LaJoy) oder revidieren (Takesue), aber ihr Kampf ist immer der eines Menschen mit seiner eigenen Moral gegen die Erfordernisse einer gierigen, stetig weiterwachsenen Spezies - nein, gemeint sind nicht die Ratten oder die Schweine, sondern wir alle, die Menschen. Die Kleinheit des Nahziels - schließlich geht es nur um ein paar Inseln vor der Küste - versinnbildlicht die Aussichtslosigkeit, die einen erfassen muss, wenn man den Blick zum Fernziel hebt. Was getan werden kann, was getan wird, das ist eigentlich Kosmetik bei einem Sterbenden: Rettung gäbe es nur, wenn sich der größte Schädling selbst ausrotten würde.
Aber der Roman will kein Thriller und auch kein Ökomärchen sein, sondern eine Geschichte darüber, wie sehr der Mensch das Antlitz des Planeten verändert hat - und wie wenig dagegen zu tun ist. Jedenfalls steht das zu vermuten; bei aller Ordentlichkeit, die Boyle im Hinblick auf die Entwicklung seiner Figuren an den Tag legt, lässt das - recht vorhersehbare - Ende des Buches gewisse Zweifel darüber aufkommen, ob es überhaupt eine Botschaft oder Prämisse gibt. Eine Hauptfigur stellt sich schließlich zwar selbst ein Bein, um es vorsichtig auszudrücken, aber eine Wertung oder Mahnung findet sich in diesem Zusammenhang nicht. Der Autor zeigt dieserart zwei Menschen, die für ihre Ziele und gegeneinander kämpfen, aber ob etwas davon - oder alles - sinnvoll oder gar "gut" ist, muss der Leser selbst entscheiden: Eine "Moral" kann zwar aus dem Kontext entstehen, doch letztlich beendet man die Lektüre und fragt sich etwas verwirrt, was es denn war, was der Großmeister da erzählen wollte.