Verteidigung der Missionarsstellung. Roman.
Wolf Haas, Hoffmann & Campe 2012
Sprache formt das Denken
Der Titel dieser Rezension fasst die sog. "Sapir-Whorf-Hypothese" zusammen, benannt u.a. nach dem (Freizeit-)Linguisten Benjamin Lee Whorf, der sie in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts formulierte. Übrigens hat Whorf bei Edward Sapir, mit dem er gemeinsam die Hypothese formulierte, indianische Sprachen studiert, unter anderem zusammen mit einer Frau namens Mary Rosamund Haas, die aber wohl nicht mit dem Autor der berühmten "Brenner"-Roman verwandt ist, heißt es doch in Wolf Haas' Biografie, beide Elternteile hätten in Mariazell als Kellner gearbeitet.
Um solche möglichen, oft nur vermuteten Beziehungen geht es in "Verteidigung der Missionarsstellung", wenn es denn überhaupt etwas gibt, um das es, wie man so schön sagt, "geht" - der Roman verweigert sich nicht nur inhaltlich einer oberflächlichen Klassifizierung. Auch seine Typografie zeigt an, dass es das Spiel mit Sinn, Form, Zusammenhang und Bedeutung ist, das Haas hier mit dem Leser treibt, etwa, wenn sich ein abermals erzählter Textabschnitt bis zur Unlesbarkeit verdichtet oder sich - wirklich sehr, sehr originell - das Geschehen in einem Aufzug als über mehrere Seiten herabfallendes Buchstabenfragment präsentiert. Zudem enthält das Buch oft sehr amüsante "Überarbeitungskommentare" in eckigen Klammern und Kapitälchen, die zuweilen viel trefflicher veranschaulichen, was an diese Stellen gehört, als das ein ausführlicher Prosatext hätte leisten können. Den - natürlich beabsichtigten - experimentellen Charakter dieser Elemente verstehe ich als Hinweis auf die Unzulänglichkeit und immanente Unfertigkeit sprachlicher Äußerungen, aber ich fürchte auch, letztlich nicht ganz verstanden zu haben, worauf der Autor eigentlich hinauswill.
Hauptfigur ist Benjamin Lee Baumgartner, bester Freund des auch im Buch auftretenden Autors Wolf Haas seit der gemeinsamen Studienzeit. Baumgartner ähnelt Will Sampson, dem Darsteller von "Häuptling" Chief Bramson in "Einer flog über das Kuckucksnest" (1975) - derjenigen Figur also, die fast den ganzen Film über stumm bleibt. Diesen Vergleich bekommt Baumgartner immer wieder zu hören; benannt ist er nach dem Hopi-Forscher Whorf, und er glaubt lange die Geschichte seiner Mutter, die in den Siebzigern auf Whorfs Spuren wandelte, nämlich selbst zur Hälfte oder wenigstens einem Viertel indianischen Ursprungs zu sein.
Das Buch beginnt damit, dass wir Baumgartner erleben, wie er im Greenwich der ausgehenden Achtziger eine hinreißende, namenlos bleibende Burgerverkäuferin kennenlernt. Während ich diesen Abschnitt las, war ich sicher, dass Haas letztlich ein altes Manuskript aus der eigenen Jugendzeit ausgegraben und an den Verlag verkauft hat. Seitenlang folgen wir den adoleszenzhumorigen Dialogen zwischen Benjamin Lee und der jungen Frau, wobei einen hohen Anteil auch noch das hat, was Baumgartner nur denkt, sich aber nicht zu sagen traut oder sagen will. Der Hinweis auf die Filmfigur ist auch hier plakativ; das Ende dieser Begegnung bleibt vorläufig offen, aber später glaubt man dann, "die Baum", wie Baumgartner seine etwa zu dieser Zeit akquirierte Ehefrau nennt, wäre jenes Mädchen - ein Irrtum, wie sich alsbald herausstellt. Und auch die Tatsache, dass Baumgartner immer vor Ort ist, wenn irgendwo eine vermeintliche Pandemie ausbricht (BSE, Schweinegrippe, Vogelgrippe, Ehec), stellt wohl keine Kausalität dar, sondern nur ein zeitgleiches Auftreten voneinander unabhängiger Ereignisse.
Haas erzählt die Erlebnisse Baumgartners bis zur Jetztzeit, wo sie sich mit dem Erleben und der Biografie des Autors zu vermischen scheinen. Die Episoden berichten hauptsächlich davon, wie sich der vermutete Halbindianer sehr plötzlich verliebt, während (aber nicht: weil) um ihn herum eine Seuche ausbricht; zwischen diesen Episoden überspringt der Autor Jahre und Jahrzehnte. Baumgartner bleibt dabei letztlich so unscharf (unecht?) wie die Erzählfigur; verlässlich ist an diesem Text ohnehin wenig, und jeder Deutungsversuch führt schnurgerade auf dünnstes Eis, vor allem, wenn man den überdeutlichen Spuren folgt, die Haas legt - und zuweilen auch noch explizit kennzeichnet. Das wirkt sperrig und anstrengend, übt aber nach und nach eine merkwürdige Faszination aus, die vom - selbst für Haas-Verhältnisse äußerst subtilen - Humor vorangetrieben wird. Er findet sich in den "Überarbeitungshinweisen", aber auch in den Ausführungen über Sprache (temporale vs. kausale Konjunktive) und seinen Auslassungen über Sätze, die etwas über sich selbst aussagen (Alle Kreter sind Lügner, sagte der Kreter).
Übrigens gilt die "Sapir-Whorf-Hypothese" als widerlegt. Was "Verteidigung der Missionarsstellung" widerlegen oder beweisen will, weiß ich nicht, um ehrlich zu sein, aber ich vermute: nichts. Dieser Roman, der keiner ist, wirkt in seiner spielerischen, exaltierten und eben auch typografischen Konstruiertheit wie ein Text, der eigentlich nie für Leser gedacht war, und er scheint zu rufen: Was auch immer Du, Leser, Dir dabei denkst, ist ebenso richtig wie falsch. Zusammenhänge entstehen in unseren Köpfen, und wie ein Verschwörungstheoretiker ist man nach der Lektüre geneigt, nach Beweisen für die eigene Auffassung zu suchen, statt den umgekehrten (und häufig richtigeren) Weg zu gehen.
Zugegeben, erst war ich verärgert, als ich das Buch beendet hatte. Das mag auch daran liegen, was ich von Haas erwartet hatte. Aber - was war das eigentlich? Haas ist Haas; die "Brenner"-Romane oder das kongeniale "Das Wetter vor fünfzehn Jahren" waren, abseits vom vordergründigen Geschehen/Humor ja auch bereits Bücher, die vor allem aufgrund ihrer Sprache und dem Umgang mit derselben beeindruckten. Das leistet "Verteidigung der Missionarsstellung" zweifelsohne auch; ob die Geschichte, insofern eine auszumachen ist, an diejenige der anderen Bücher herankommt, ist eine andere Frage, die man sich meiner Meinung nach aber überhaupt nicht stellen sollte: Das Buch ist originell genug auch ohne das.