Kleiner Versager. Roman.
Gary Shteyngart, Rowohlt 2015


Kleiner Versager

Mittelmäßig-tragikomische halbwahre Lebensgeschichte?

Gary hieß früher Igor, als die Familie noch in der Sowjetunion lebte, bis sie in den späten Siebzigern zu jenen jüdischen Umsiedlern gehörte, die im Austausch gegen amerikanische Technologie in die Vereinigten Staaten auswandern durften. Igor Schrägstrich Gary war damals sieben Jahre alt, asthmatisch und hatte bereits seine erste Geschichte aufgeschrieben: "Lenins wunderbare Wildgänse".

Der 1972 geborene Schriftsteller und Journalist ist inzwischen in den Vierzigern; sein Name hatte mir bis dato nicht viel gesagt (den Titel seines erfolgreichsten Romans "Super Sad True Love Story" hatte ich allerdings schon gehört), und ich wusste auch nicht, dass ich eine Autobiografie gekauft hatte, als ich das das Buch zu lesen begann. Und vermutlich war diese Unterscheidung zwischen fiktionalem und biografischem Erzählen auch für Shteyngart nicht immer präzise auszumachen - nicht nur in diesem Buch. Es enthält viele Verweise auf reale Personen, die auf die eine oder andere Art in seinen (vier) Romanen auftauchen, während sie in dieser Biografie überwiegend mit anderen Namen versehen wurden, meistens (sinngemäß) ergänzt um Kommentare wie "natürlich hieß er/sie nicht wirklich so".

Als ich bemerkt hatte, welche Art von Buch ich las, änderte sich die Wahrnehmung, natürlich auch die kritische. Welcher Teil der ausführlich wiedergegebenen Kindheitserlebnisse ist wirklich erinnert, stammt aus Erzählungen der Eltern - oder ist möglicherweise doch überwiegend erfunden? Mit dieser Frage spielt Shteyngart auch aktiv, und er verwendet solche Motive längst nicht nur, um beispielsweise den krassen Übergang zwischen den Kulturen zu veranschaulichen. Er ist gerade mal sieben Jahre alt, als er in den U.S. of A. ankommt, wo seine Eltern umgehend damit beginnen, so viele Ersparnisse anzuhäufen, dass der soziale Aufstieg über Kurz oder Lang geschafft werden kann. Das umständebedingt entbehrungsreiche Leben in der UdSSR ersetzen sie durch schlichten Geiz - während die Mitschüler bei McDonald's futtern, gibt's bei den Shteyngarts weiterhin Bortschsch und anderes Zeug aus oder mit Roter Bete. Als Gary in die Prep-School kommt, immerhin ausgestattet mit neuer Kluft aus Manhattans Boutiquen, trägt er ein Dokument mit sich herum, um beweisen zu können, dass das neue Haus der Eltern eine schlappe Viertelmillion Dollar gekostet hat.

Dieser Gary ist, vorsichtig gesagt, kein sonderlich sympathischer Typ, woran sich über die Erzählung hinweg nicht viel ändert (an einer Stelle bezeichnet er sich selbst völlig ironiefrei als "Charakterschwein"). Was sich ändert, das ist der Hintergrund - aus dem russischen Migranten aus Leningrad wird ein amerikanischer Jugendlicher in New York, der dazugehören will und nach Möglichkeiten sucht, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Lehrerin entdeckt Garys schriftstellerische Fähigkeiten und seine überbordende Phantasie, als er elf oder zwölf ist - Garys am Ende der Unterrichtsstunde vorgetragene Geschichten markieren die Katharsis. Ab ungefähr diesem Punkt, als also erklärt ist, wie der Autobiograf zum Schriftsteller wurde, verliert das Buch deutlich an Originalität, kämpft sich durch die weiteren Stationen von Shteyngarts Jugend und frühem Erwachsenenleben, die Collegezeit, seine späte erste Beziehung und die symbiotische Freundschaft zu einem New Yorker Drehbuchautor. Bei diesen Episoden wird deutlich erkennbar, dass der Autor sein reales Personal zu schonen versucht hat, um sich selbst als Figur umso härter ranzunehmen. Die einzigen, die bis fast zum Ende ihr Fett wirklich satt wegkriegen, das sind die extrem pragmatischen, emotionsarmen Eltern, die sich von ihren Wurzeln nie lösen können oder wollen. Vor allem die problematische Hassliebe-Beziehung zum Vater - von dem ungewollt der Buchtitel stammt - spielt eine zentrale Rolle.

Gary Shteyngart kann zweifelsohne exzellent schreiben und erzählen, aber "Kleiner Versager" verliert leider immer mehr an Fahrt, je normaler und damit vorhersehbarer die Entwicklung wird, je intensiver Shteyngart den Fokus auf äußere Aspekte (etwa die Zustände am Oberlin College) legt, während die Meilensteine für die eigene Entwicklung deutlich unscheinbarer werden. Die dramaturgische Klammer - die Geschichte endet mit einem Russlandbesuch, an dem die Eltern teilnehmen - hat stark artifiziellen Charakter, während bei entscheidenden Fortschritten - den ersten Beziehungen, dem ersten Bucherfolg - wesentliche Elemente zu fehlen scheinen. Unabhängig hiervon liest sich diese schon ob der unsubtilen Selbstüberhöhung bemerkenswerte Autobiografie recht gut, oft spannend und meistens amüsant, aber ich hatte dennoch durchaus Mühe, interessiert zu bleiben. Die Frage, warum ein nur vergleichsweise bekannter amerikanischer Autor mit Anfang vierzig seine lediglich vereinzelt spektakuläre Biografie vorlegt, die er ohnehin schon in mehreren Romanen verarbeitet hat, beantwortet das Buch nicht. Es zeigt allerdings sehr anschaulich die Entwicklung eines Jugendlichen in den Achtzigern und Neunzigern am Beispiel einer halbwegs archetypischen und nur teilweise unkonventionellen Figur, wobei sich der Autor nicht die allergeringste Mühe gibt, die Leser für diese Figur - also sich - zu vereinnahmen.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

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Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:

NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015


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