Kindeswohl. Roman.
Ian McEwan, Diogenes 2015

Kindeswohl

Einer der besten Romane McEwans

Fiona Maye ist sechzig, eigentlich glücklich verheiratet und arbeitet erfolgreich als Familienrichterin am Londoner High Court. Sie ist ganz und gar typische Bildungsbürgerin, liebt klassische Musik, spielt mehr als leidlich gut Klavier, isst gerne und gut, und sie mag die dekadente Abgeschiedenheit der kleinen, innerstädtischen Wohnsiedlung, in der außer ihr und dem Gatten vor allem Juristen leben.
Fiona verhandelt Scheidungssachen und Sorgerechtsfälle, doch die Routine wird fast schon regelmäßig durch Prozesse unterbrochen, in denen es um weit mehr geht. Da sind die strenggläubigen Katholiken, Eltern siamesischer Zwillingskinder, von denen nach Gutachtenlage nur eines überleben könnte, wenn man zulassen würde, dass das andere bei der Trennung stirbt. Die Eltern jedoch wünschen, dass die Kinder ihrem Schicksal, also Gottes Wille überlassen werden, was zur Konsequenz hätte, dass wahrscheinlich beide sterben würden. Da ist die Mutter zweier Mädchen, die sich nach der Trennung vom Vater wünscht, dass die Kinder, die bislang nach den Regeln des chassidischen Judentums erzogen wurden, die Gelegenheit bekommen, mehr über die Welt zu erfahren und von ihr zu erleben, als die orthodoxe Strömung zulässt. Und da ist Adam Henry, der siebzehn Jahre alte, an Leukämie erkrankte Junge, der nach einer erfolgreichen Behandlung Bluttransfusionen benötigen würde, um weiterleben zu können. Doch Adam Henry und seine Eltern sind Zeugen Jehovas, die Transfusionen kategorisch ablehnen. Auch der kluge und wissbegierige, sehr kurz vor der Volljährigkeit stehende Junge, den Fiona Maye - recht unorthodox - sogar im Krankenhaus aufsucht, wünscht sich den Verzicht auf die Behandlung, aber Fiona Maye hat nach dem zu urteilen, was dem wichtigsten Prinzip, der Grundlage all ihrer Entscheidungen entspricht, nämlich dem Kindeswohl. Nur: Was ist das eigentlich?

Doch in McEwans neuem Roman geht es nicht nur um das Wohl tatsächlich existierender Kinder, sondern auch um das derjenigen, die nie geboren wurden, weil die Eltern keine Zeit für sie hatten oder gehabt hätten. Fiona und ihr Mann sind kinderlos; eine Entscheidung, die nie faktisch getroffen, sondern diskussionslos verschoben wurde - und für die es irgendwann zu spät war. Seit dem Prozess um die siamesischen Zwillinge und einem Urteil, das direkt zum Tod eines der beiden Kinder geführt hat, ist in Fiona etwas zerstört, das sie kaum benennen kann und auch dem Mann gegenüber nicht thematisiert. Weil ihm der Sex fehlt, sucht sich der Gatte eine Geliebte - und stellt die eigene Frau vor die Entscheidung, die Affäre zu akzeptieren oder abzulehnen. Die Richterin urteilt ungewöhnlich schnell und setzt den Mann vor die Tür.

"Kindeswohl" ist aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur erzählt, und das mit extrem hoher Präzision und Empathie. McEwan gelingt eine bestechend detailreiche, jederzeit spannende Schilderung der Abläufe und Entscheidungen vor Gericht, vor allem aber deren Vorbereitung durch Fiona Maye, die es sich keinesfalls leicht macht, die zumeist religiösen Implikationen zu respektieren versucht und dennoch einen Weg findet, der ethische, moralische, juristische und faktische Aspekte verbindet. Das ist mehr als einfach nur atemberaubend, und die Ansichten der Glaubensvertreter werden keinesfalls der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern in durchaus ehrenhafter Weise betrachtet. Das ändert wenig daran, dass die Dogmen und Regeln oft ans Absurde grenzen und mit säkularer Gerichtsbarkeit kaum zu vereinbaren sind. Aber "Kindeswohl" ist kein vordergründig religionskritischer Roman. Natürlich kommt Fiona Maye im Rahmen der entsprechenden Prozesse fast immer zu Urteilen, die die weltliche Justiz, vor allem aber eben das Kindeswohl über die religiösen Regeln stellen, aber in der Innenschau - etwa in der Romanmitte - meint sie sinngemäß, dass Religionen, überhaupt moralische Prinzipien wie die Gipfel einer Bergkette am Horizont sind, keiner davon deutlich höher als der andere. Moral und Ethik sind keine absoluten Kategorien, sondern vergängliche Prinzipien, subjektiv und durchaus relativ, zwar von unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit, aber nicht nur allein deshalb falsch oder richtig, weil die Gruppen, die ihnen folgen, größer oder kleiner, mächtiger oder wehrloser, intelligenter oder dümmer, offener oder verschlossener wären. Was ihnen fraglos oft entgegensteht, dass ist die reale Gegenwart, und im konkreten Fall die Notwendigkeit, ein Urteil zu fällen, dass die Dogmen zwar nicht hinterfragt, ihre Bedeutung im Hinblick auf das Kindeswohl jedoch relativiert. Und natürlich ist das dann doch wieder religionskritisch, aber auf so klug-indirekte Weise, dass man eigentlich nur zustimmen kann.

Der Eindruck, den diese Rezension bis hierhin macht, mag unrichtig sein. Gleichwohl im Zentrum der Handlung stehend, geht es im Roman nicht nur um Mayes Urteile, sondern um ihr Privatleben und die dortigen Konsequenzen ihres professionellen Handelns. Diese zeigen sich konkret im Fall des jungen Zeugen Jehovas, der nach der richterlichen Entscheidung versucht, sich an dieser Richterin zu orientieren, sich ihr zu nähern, was Fiona Maye irritiert, was sie verweigert. Parallel muss sie erkennen, dass Objektivität und Sachlichkeit ihre Grenzen haben, wenn es um Emotionen geht, ohne die eine funktionierende Liebesbeziehung schlicht nicht auskommen kann. Auch in einer Ehe sind die Kausalitäten nicht mit dem Präfix "Mono" ausgestattet.

Ian McEwan ist ein brillanter, zwingender Erzähler, dem die Robe der Richterin gut passt. "Kindeswohl" gehört zweifelsohne zu seinen besten Romanen, besticht durch die thematische Stringenz und exzellente Recherche. Das zwar nicht sehr überraschende, wohl aber verblüffende Ende nimmt der vermeintlichen Eindeutigkeit des Vorangegangenen einiges an Wind aus den Segeln, unterstreicht vor allem jedoch die Frage, wer eigentlich nach einem Urteil die Verantwortung für dessen Folgen trägt. Ein sehr, sehr gutes Buch!

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

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Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:

NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015
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