Karlheinz. Roman.
Billy Hutter, Metrolit 2015
Was bleibt
Wenn sich jemand wie Karlheinz Naksch aus dem Leben verabschiedet, bleibt oft nicht viel mehr übrig als die Erinnerung, die dann mit den Hinterbliebenen geht. Die meisten von uns - perspektivisch aber alle - werden ausgelöscht, früher oder später, und schon anderthalb Generationen später weiß kaum noch jemand, wer das war, der da, leicht verschämt grinsend, am Rand irgendeines alten Fotos zu sehen ist. Umso mehr, umso schneller, wenn es um einen wie Karlheinz geht, dessen herausragendste Eigenschaft darin bestand, Regenmäntel zu sammeln - und seinen Alltag akribisch zu dokumentieren.
Ludwigshafen im Jahr 1929: Karlheinz wird geboren. Knapp sechzig Jahre später wird er sterben, ertrunken im großen Fluss. Seine Geschichte ist zugleich die Geschichte der Stadt am Rhein, die mit der BASF wuchs, während der Nazizeit eine besondere Rolle spielte, einen Bundeskanzler hervorbrachte - und heute nur noch dann erwähnenswert scheint, wenn das "Tatort"-Ermittlerpaar Odenthal/Kopper Industriedenkmäler nach Täterhinweisen absucht.
In den Neunzigern entdeckt der professionelle Entrümpler Billy Hutter diesen besonderen Nachlass, Berge von in sorgfältiger Handschrift bekritzelten Notizzetteln und mehrspaltig genutzten A4-Seiten, dazu Fotos, Postkarten, Möbel, Artefakte. Nach und nach offenbaren sich der Umfang und die stille Gewalt der Hinterlassenschaft. Hutter ist fasziniert, verwendet Teile des Funds in einer Art Mini-Museum, um schließlich aus der Geschichte einen Roman zu machen, der allerdings keiner ist. Sondern eine Biografie, der jedes wertende Element zu fehlen scheint, die ganz einfach dokumentiert und auflistet, erklärt und einordnet, was da gefunden wurde. Ein Leben auf 220 eng gesetzten Seiten, ein belangloses, vielleicht sogar klägliches Leben, aber dennoch: Ein Leben.
"Karlheinz" wirkt spröde, unspannend. Es geschieht nichts, es gibt fast keine Dialoge, es sei denn, Hutter springt in die Jetztzeit, um die Wirkung dieser Hinterlassenschaft auf sich selbst zu veranschaulichen und den Biografen zu verorten. Karlheinz' Leben war unspektakulär, arm an sozialen Kontakten, enthielt keine Karriere; der Sohn eines Chemikers, in dessen Fußstapfen der Filius - erfolglos - zu folgen versuchte, blieb Nesthocker, brach das Studium ab, war nie verheiratet, hatte keine Kinder. Seine seltenen sexuellen Kontakte fanden überwiegend mit Prostituierten statt ("Frankfurt, 1 x richtig"), und von den Regenmänteln abgesehen galt seine Leidenschaft, insofern dieses Wort überhaupt angemessen ist, den sonntäglichen Ausflügen mit den Eltern, bevorzugt in die Pfalz - mit dem "Opelauto" - und meistens sogar an Orte, die man bereits dutzendfach aufgesucht hatte. Mit ungefähr vierzig versuchte sich Karlheinz an Börsenspekulationen und leicht windigen Finanzgeschäften, geriet sogar mit dem Gesetz in Konflikt, aber auch das eher auf provinziellem Niveau. Der Mann hatte keine guten Freunde und kein nennenswertes Hobby, doch bei vielen Notizen wird deutlich erkennbar, dass da durchaus eine Erwartung war, eine Hoffnung auf mehr - die jedoch nie erfüllt wurde. Oder eigentlich doch, denn Hutter hat ihm jetzt ein Denkmal gesetzt, das in seinem Detailreichtum, der äußerst intim ist, ohne je peinlich zu sein, für alle Karlheinze dieser Welt steht, genau genommen aber auch für jene unter uns mit anderen Namen.
Dieser Roman ist also eigentlich eher ein Geschichtsbuch, erzählt aus der Perspektive eines Mannes, der nahezu keinen Einfluss auf diese Geschichte hatte, aber ein Teil von ihr war, auf die Weise, wie wir alle ein Teil der Geschichte sind. Dieser Ansatz ist nicht ganz neu, aber Hutters unbestechliche und liebenswürdige Genauigkeit, die hier und da mit einer Prise Wahnhaftigkeit gewürzt zu sein scheint, hebt dieses Buch deutlich hervor. "Karlheinz" ist erschütternd und ernüchternd, akribisch und, zugegeben, hin und wieder auch ein bisschen langweilig, jederzeit einfühlsam und unterm Strich ganz schön traurig. Und trotzdem hinterlässt die Lektüre kein schlechtes Gefühl, weil all das mit einem melancholischen Augenzwinkern versehen ist, weil Karlheinz eben nicht nur typisch war, und insofern auch für die Hoffnung steht, dass am Ende etwas mehr bleiben kann als ein Haufen Zeug im Container des Entrümplers. Dieses leise, schöne und notwendige Buch ist ein Aufruf, die Zeit im Diesseits zu nutzen, und das kann man nicht oft genug tun.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015
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