Hikikomori. Roman.
Kevin Kuhn, Berlin-Verlag 2012

Hikikomori

Sind das Hyazinthen?

Till Tegetmeyer hat das zweifelhafte Glück, ambitionierte Eltern zu haben - ambitioniert vor allem in Bezug auf sich selbst und die persönliche Entfaltung. Was die Kinder - Till und seine jüngere Schwester Ann-Marie - treiben, wird unter "sie müssen ihre Erfahrungen sammeln" subsummiert, was letztlich bedeutet, dass der vermögende Vater, Schönheitschirurg, und die egozentrische Mutter, die eine Art Möbelgalerie namens "SchauRaum" betreibt, das nötige Geld bereitstellen, die Jugendlichen aber ansonsten tun lassen, was auch immer diese tun wollen.
Es ist vermutlich diese anleitungs- und prinzipienfreie Umgebung, die Till ins Taumeln kommen lässt, als am Ende seiner schulischen Laufbahn plötzlich sämtliche Lebensplanungen platzen: Er wird nicht für das Abitur zugelassen. Till sieht sich seines Umfelds beraubt, muss eine Abzweigung nehmen, während alle anderen voranschreiten, nicht selten in den Fußstapfen der Eltern. Und so kommt er ins Grübeln. Seine Antwort lautet: Rückzug. Selbstfindung. Isolation. Hinterfragung.
Aus dem Zimmer, das Till von allen Möbelstücken bis auf Matratze und Computerarbeitsplatz befreit, wird die Box, die ganz persönliche, freie und neu auszufüllende Projektionsfläche für das Projekt Selbstauslotung. Der Erkenntnis, die Schablonen nicht zu verstehen, folgt der Versuch, eigene Ideale zu finden, aus der von anderen schablonierten Welt auszubrechen. Zunächst hält Till losen Kontakt nach außen, begegnet auch hin und wieder noch der Familie, geht sogar auf eine Party, aber sein Unvermögen, das Geschehen um sich herum zu verstehen, gar dort die eigene Position zu finden, zwingt ihn immer weiter in die innere Isolation. Er spielt tagein, tagaus am Computer den Shooter "Medal of Honor", nimmt über Facebook-Statusmeldungen zur Kenntnis, was die Schwester im Nebenzimmer treibt, und entwickelt eine stark reduzierte Kommunikation mit der Mutter, die zur stummen Versorgerin wird.
Währenddessen lebt die Restfamilie weiter, als wäre nichts geschehen. Till mauert sich ein, verklebt das Fenster, verlässt den Raum überhaupt nicht mehr, bestellt sich aber über das Internet einen Leguan, der nachts an Tills Finger nagt. Der junge Mann bemerkt auch kaum, dass sein "Hikikomori" - japanisch für "gesellschaftlicher Rückzug" - inzwischen per Livestream ins Netz gestellt und von Tausenden verfolgt wird. Nach Monaten entdeckt er das Simulationsspiel "Minecraft", mit dem riesige, völlig freie Welten gestaltet und bevölkert werden können, zusammengebaut aus simplen Blöcken und einfachen Prinzipien folgend. Die von Till geschaffene "Welt 0 (Null)", reduktionistisch und endlos zugleich, markiert die Katharsis. Er glaubt, seine Lebensaufgabe, einen persönlichen Sinn gefunden zu haben; die Grenzen zwischen Virtualität und Realität sind aufgehoben. Was mit ihm selbst geschieht, wird bedeutungslos.
Dieser sehr bemerkenswerte und intelligent konstruierte, in eigenwilligem, doch angemessenem Duktus verfasste Roman erzählt vordergründig vom Entstehen und dem Verlauf einer psychischen Störung, aber er zeichnet zugleich ein Sitten- und Gesellschaftsbild. Kuhn thematisiert Werteverfall, die Sucht nach einer Kommunikation, die keine ist, jene egozentrische Elterngeneration, die Anfang des neuen Jahrtausends damit begann, Kinder zu zeugen, und - natürlich - auch Freundschaft und Liebe. "Hikikomori" ist ein spannendes, packendes, unkonventionelles Buch, streng komponiert, präzise und feingeistig erzählt, und mit viel Empathie für seine exemplarische Hauptfigur ausgestattet. Wenn es etwas Negatives anzumerken gäbe, dann höchstens, dass sich der Stoff auch als Kurzgeschichte oder Novelle hätte wiedergeben lassen - "Hikikomori" wirkt zuweilen etwas gedehnt, was auch die Perspektivwechsel nicht auszugleichen in der Lage sind.
Meine Lieblingsstelle ist jene, als Till am Anfang des Experiments eine Party besucht. Sein persönlicher Fokuswechsel wird überdeutlich, als alle auf das Geschehen konzentriert sind, er jedoch Dinge wahrnimmt, die niemanden sonst interessieren. Daher auch der Titel dieser Rezension.

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