Helmut Kuhn: Gehwegschäden (Frankfurter Verlagsanstalt)

Gehwegschäden

Darunter lauern die Ratten

Kürzlich habe ich Wilhelm Genazinos "Ein Regenschirm für diesen Tag" abermals gelesen, diesen wunderbaren, kurzen Roman über einen namenlosen Helden, dessen größte Alltagsschwierigkeit darin besteht, zu viel wahrzunehmen: Er leidet darunter, hinter allem - fast zwanghaft - einen Sinn zu vermuten, während seine Zeitgenossen mit ihrer sehr oberflächlichen Weltsicht viel besser zurechtzukommen scheinen.
Ganz ähnlich geht es Thomas Frantz, der Hauptfigur aus "Gehwegschäden". Der Mann ist Ende vierzig, freier Journalist, Schachboxer. Dessen Leiden nennt Kuhn "Losigkeit"; Frantz fehlt der Halt, denn er findet nichts, das würdig wäre, ihm einen solchen zu bieten.  Schaut er sich um in seinem Leben und in diesem Berlin des Jahres 2010, was er sehr intensiv macht, fällt die Glücksprognose äußerst negativ aus. Die spezielle und die allgemeine. Ohne jede Sentimentalität.

Thomas Frantz war mal erfolgreich, schrieb für gutes Geld, gewann Preise, arbeitete als Kriegsberichterstatter. Dann begann die Journaille damit, sich selbst zu entleiben, und Frantz wurde ein Opfer dieses Prozesses. Inzwischen gelingt es ihm nicht einmal mehr, Reporter für ein Tankstellenmagazin zu werden, er führt ein Konto auf Guthabenbasis, muss in "Kundendienstzentren" von Telefonfirmen vorstellig werden oder Besuche von Gerichtsvollziehern abwimmeln. Er trinkt. Und er nimmt wahr. Diese Stadt, die zerfressen wird von Heuschrecken, Touristen, Erlebnisgastronomen. Seine Freunde, die zerfressen werden. Die Gehwege, an denen Schilder darauf hinweisen, dass man die Schäden wohl zur Kenntnis genommen hat, sich aber nicht dazu in der Lage sieht, sie jemals auszubessern. Die Ratten, die darunter - fressend - lauern und ihre Burgen bauen. Zehn Ratten pro Einwohner.

Das klingt deprimierend, aber "Gehwegschäden" ist kein pessimistischer Roman, sondern ein nüchterner, sachlicher, cleverer, zuweilen sehr komischer, enorm dichter und sprachlich nahezu perfekter. Das Geschehen ist in Episoden zerteilt, die gelegentlich direkt aufeinander folgen, manchmal in ihrer zeitlichen Anordnung eine eher lose Abfolge bilden, eingefasst durch eine erzählerische Klammer, die Autobiografisches vermuten lässt. Frantz, der mit seinen Freunden die Neueröffnung eines Elektronikmarkts am Alexanderplatz besucht. Frantz im Neuköllner Wettbüro. Frantz bei der Recherche, in historischen Gebäuden, aus denen "Investoren" Nobelherbergen machen. Frantz beim Schachboxen-Training. Frantz beim Trinken. Frantz oft beim Trinken. Etwa an einem Stromkasten, der vor einer ehemaligen Stammkneipe steht, aus der ein touristisch relevanter "Szenetreff" geworden ist. So bleibt wenigstens die Illusion davon, noch dazuzugehören. Ohne zu wissen, was das ist, dem man angehören könnte. Die Begegnung mit der jungen, hübschen Schachboxerin Sandra markiert einen möglichen Wendepunkt. Doch Frantz findet seinen "sales pitch" nicht, die Kernaussage, die seine Attraktivität markieren könnte, und ohne die man in unserer Zeit nicht mehr überlebensfähig ist. Sandra hat 167 Freunde auf Facebook. Frantz hat Fred, den trinkenden Nerd, und Sandro, einen Neureichen, der ihn nur anruft, um über sein Hausmädchen zu schimpfen.

Für all die Themen, die Helmut Kuhn auf gut 400 Seiten anpackt, würden andere vermutlich dreimal so viel Raum benötigen - man spürt, dass hier ein Journalist schreibt, jemand, der es gewöhnt ist, zu beobachten, um die Ergebnisse in knappe, aber kunstvolle, spannende Formulierungen zu gießen, manchmal Drei-Worte-Sätze, Neologismen, und Metaphern von erschütternder Präzision. Das gesamte Buch ist eine Erschütterung, eine Demaskierung, ein Wegzerren der Larve, hinter der sich diese scheinbar rasante, alles verschlingende, von egoistischen Ratten unterwanderte Gesellschaft verschanzt. Soweit es sich beurteilen lässt, sind Orte und Ereignisse übrigens authentisch.

Noch ein Vergleich zum Schluss - ich fühlte mich oft an Clemens Meyers "Als wir träumten" erinnert, das ähnlich direkt, auf persönliche Weise schonungslos und hart daherkam, aber "Gehwegschäden" ist substantieller, deutlich kompromissloser und auch schlauer. Nicht jede Aussage stimmt, die Kuhn seiner grenznihilistischen, suchenden Hauptfigur in den Mund legt, aber er hat selten wirklich Unrecht. Das klingt lediglich wie ein Widerspruch, den es allerdings tatsächlich gibt - nur eben außerhalb dieses starken, wuchtigen, eindrucksvollen Romans.

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