Brenntage. Roman.
Michael Stavaric, C.H. Beck 2011


Brenntage

Zukunft ist Vergangenheit plus zwei

Das ist schon ein seltsamer Roman, den der gebürtige Tscheche, der seit seinem achten Lebensjahr in Österreich weilt, da vorgelegt hat: Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet vom Leben in einem Dorf, einer Siedlung, die einst reich und umkämpft war, als die Minen noch Gold und Uran im Überfluss enthielten, doch diese Zeiten sind lange vorbei ("lange" ist, wie sämtliche Zeitbegriffe, schwer einzuordnen in diesem Zusammenhang, denn Zeit in diesem Sinn scheint nicht zu existieren). Der Junge, der später - möglicherweise - keiner mehr ist, hat seine Mutter verloren, deren Vermächtnis aus Briefen besteht, die ihm täglich zugestellt werden. Dieser Junge lebt beim Onkel, auch die Tante gibt es längst nicht mehr, aber jener Onkel war die federführende Kraft bei vielen Prozessen - wohl auch bei der Gründung der Siedlung, später bei der Ausbeutung der Minen, und dann bei der Erfindung der jährlichen "Brenntage", jener öffentlichen Verfeuerung ausgedienter Gegenstände, die am Ende des Romans die Siedlung vernichten wird. Dieses Ritual ist das einzige, was noch Bestand hat in der bröckelnden Welt, über die Stavaric in beeindruckender Weise schreibt.

Episodisch - zuweilen ohne Chronologie - berichtet der Erzähler davon, wie sich das Leben im von der Zivilisation weitgehend abgeschnittenen Dorf darstellt, erzählt von seltsamen Ritualen, von Geistern, vom nahen Wald, dessen Birken nicht abgeholzt werden dürfen, durch den zuweilen Soldaten ziehen, beobachtet von den Kindern, die sich viel besser als diese zu tarnen in der Lage sind. Über allem steht der omnipräsente Onkel, der vieles weiß und auf alles eine Antwort hat, der handwerklich geschickt und ein guter Jäger ist, dem Jungen - auch später noch - ausgestopfte Tiere zum Spielen gibt. Er ist Kumpel, Lehrer, Vater und Freund zugleich, und dann in seiner Distanziertheit wieder nichts von alledem. Auch dieser Onkel hat, wie vieles im Buch, etwas Geisthaftes.

Die Eisenbahnschienen, die einst für Wohlstand sorgten, enden im Nichts, die unüberwindliche Schlucht hat keine Brücken mehr, und wer versucht, die Siedlung über die Berge zu verlassen, verschwindet auf Nimmerwiedersehen - wahrscheinlich, ohne je irgendwo anzukommen. Das jedoch gilt für so manchen, der Dinge tut, die man besser unterlässt in dieser freudlosen, nüchternen, muffigen, mystischen kleinen Welt. Als die Kinder etwa versuchen, im Wald Geister mit Lebendködern zu fangen (wofür ein Mädchen ausgelost wird), fordert auch dies seine Opfer. Mehr als einen Nebensatz hat der Autor hierfür jedoch nicht übrig, was keinesfalls einen Makel darstellt, sondern einen Verweis auf die knappe, präzise, lakonische Erzählweise, deren kunstvolle, oft verblüffende Diktion bis zur letzten Seite durchgehalten wird.

Abseits der Geschichte von der fiktiven (?) Tristesse im armseligen Hinterland, von der emotionalen Verknappung, die nicht einmal Eigennamen zulässt (der einzige Name, der im gesamten Buch genannt wird, ist der des Mond-Erstbegehers Neil Armstrong), vom Erkunden, Überleben, Erfahren und Scheitern ist "Brenntage" ein Gleichnis über das, was war, was ist und was sein wird: Gestern war Vergangenheit, heute ist Gegenwart, morgen ist Zukunft - also nur zwei kleine Schritte von der Vergangenheit entfernt. Aus dieser Sicht erzählt das Buch (auch) von der Stagnation des so genannten Fortschritts, von Entwicklungen, die keine sind, und von sinnfreien Ritualen, die bestenfalls der Orientierung dienen, aber nicht einmal diese verlässlich bieten.

Wer dem Etikett "Roman" glaubt, wird eine möglicherweise befremdliche Überraschung erleben. "Brenntage" ist feinste Literatur, verwirrend, fordernd, metaphorisch, deutungsoffen und rätselhaft, diffus und zugleich präzise, aber weit entfernt von einem Buch nach üblichem Erzählschema. Sperrig, stark erzählt, häufig schwergängig, sehr vereinnahmend. Ein Roman, der lange im Kopf bleibt. Wenn man ihn hineinlässt.

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