Die gleißende Welt. Roman.
Siri Hustvedt, Rowohlt 2015
Lesen ist Arbeit
Siri Hustvedts vorige Romane waren bereits eher anspruchsvollere Lektüre, also nicht einfach so nebenher wegzulesen, doch mit ihrem jüngsten Werk hat die amerikanische Autorin diese Messlatte abermals nach oben justiert. "Die gleißende Welt" gibt sich als Biografie der bildenden Künstlerin Harriet Burden, als Anthologie zusammengesetzt aus Interviews, Tagebuchauszügen, Presseschnipseln und Stellungnahmen ehemaliger Wegbegleiter. Die einzelnen Elemente sind - auf übrigens vortreffliche Weise - im Duktus der jeweiligen Person oder Institution verfasst. Wenn die knietief im Esosumpf verwurzelte Ex-Assistentin Sweet Autumn Pinkney erzählt, liest sich der Text entsprechend, und wenn der Lyriker Bruno Kleinfeld zu Wort kommt, mit dem Harriet Burden liiert war, sieht man den dicken, gemütlichen, ambitionierten und genau beobachtenden Schriftsteller fast vor sich.
So vielschichtig wie die Figurenschar und ihre sprachlichen Eigenarten sind die Themen des Romans, der sich in der Hauptsache jedoch mit Emanzipation und Misogynie befasst. Harriet Burden war Künstlerin, die nie als solche respektiert wurde, was sich weiter verschlimmerte, als sie die Ehefrau des renommierten und vermögenden Kunsthändlers Felix Lord wurde, denn fortan wurde sie nur noch als dessen Gattin wahrgenommen, die eben auch irgendwie Kunst macht - begütert, belächelt und kaum beachtet. Deshalb ersinnt sie ein dreistufiges Projekt mit dem Titel "Maskierungen", kongeniale Installationen, die sie jeweils von männlichen Strohmännern anbieten lässt: Dem jungen, manipulierbaren und etwas wirren Anton Tish, dem befreundeten, dunkelhäutigen und homosexuellen Phineas Q. Eldrig und schließlich dem arrivierten und irritierenden Schönling "Rune" Larsen. Die Objekte werden begeistert aufgenommen und zuletzt sogar gefeiert, doch als Rune die Maskierung entlarven soll, verweigert er dies und behauptet stoisch, selbst der Schöpfer gewesen zu sein: "Darunter" wird als seine beste Arbeit bisher gehandelt.
Neben Fragen der Chancenähnlichkeit vor dem Hintergrund der Geschlechtszugehörigkeit - jedoch längst nicht nur dieser - steht die menschliche Wahrnehmung im Fokus der Erzählung, wobei diese Fragestellungen natürlich einhergehen. Wie verändert sich die Wahrnehmung abhängig davon, was wir über die Person wissen, die wir oder von der wir etwas wahrnehmen? Wie funktionieren unsere Kategorisierungen, welche Ursachen haben sie, wie kann man diese himmelschreiend ungerechte, vorurteilsbeladene Subjektivität brechen? Siri Hustvedt fährt hierfür ein gewaltiges Arsenal auf, zitiert aus ihrem beeindruckenden Wissensschatz, konstruiert Verbindungen, diskutiert philosophische Ansätze und vieles mehr. Vor allem die Notizen und Tagebücher aus dem Nachlass der fiktiven Künstlerin sind mit Fußnoten, rätselhaften Andeutungen, Anmerkungen zu Kunst- und Literaturgeschichte, Philosophie, Psychologie und Kybernetik gespickt, wobei deren Dichte und Intensität die Lesegeschwindigkeit eines durchschnittlich gebildeten Menschen durchaus empfindlich beeinflussen dürften. Bei mir war es jedenfalls so: Der letzte Roman, für den ich ähnlich lange gebraucht habe, war David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß".
Und trotzdem ist dieses Buch ungeheuer spannend, natürlich - sonst stünde nicht "Siri Hustvedt" auf dem Umschlag - mehr als einfach nur klug, äußerst originell und ... wie soll man sagen? Wichtig. Man kann Ungerechtigkeiten auf einer Skala einordnen, die bei "lebensbedrohlich" beginnt und bei "eher den Komfort anbetreffend" endet, aber das ist einerseits immer aufs äußerste ungerecht und missachtet andererseits auf grobe Weise die Einzelschicksale. Eine reale, aber leider immer noch unrealistische Gleichberechtigung wäre nicht dann etabliert, wenn jeder Mensch beweisen könnte oder sogar müsste, dass er zu allem in der Lage ist, sondern erst dann, wenn jeder Mensch die Chance hat, sein eigenes Leben so zu gestalten, wie er das selbst will - ohne Relativierung vor dem Hintergrund seiner Geschlechterzugehörigkeit, Hautfarbe, Schuhgröße oder Ernährungspräferenz, wobei sich mit diesen - ja allesamt willkürlichen - Kategorisierungen eine vielhundertseitige Liste füllen ließe.
"Die gleißende Welt" erzählt also mehr als die Lebensgeschichte einer Künstlerin, es handelt sich um eine Bestandsaufnahme, ergänzt um eine historische Betrachtung und so etwas wie eine Vision. Und neben der Wahrnehmung durch andere geht es selbstverständlich auch um die Selbstwahrnehmung, die nicht weniger stark beeinflusst ist. An dieser Stelle scheint die Motivation der Autorin besonders deutlich zu werden, was sich aber, um beim Wortstamm zu bleiben, um eine Deutung handelt.
Ein großartiges Buch, viel besser als die letzten beiden Romane von Siri Hustvedt.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015
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