Straße der Wunder. Roman.
John Irving, Diogenes 2016
Sadomaso für Esoteriker
Die Frage, ob dieser Roman ein Meisterwerk ist oder doch eher das Gegenteil davon, kommt mir in erster Linie wie eine rein rhetorische Frage vor. Ein Meisterwerk stammt von jemandem, der sein Fach meisterlich beherrscht. Fraglos kann John Irving das, was er während der vergangenen Jahrzehnte praktiziert hat, auf seine ganz persönliche Weise sehr gut, er ist also quasi ein Meister des irvingschen Schreibens, aber mit diesem Buch stellt sich einmal mehr die Frage, was darunter eigentlich zu verstehen ist.
"Straße der Wunder" erzählt von Juan Diego Guerrero, einem begabten Kind, das auf einer Müllkippe in Mexiko aufwächst. Seine Mutter ist eine Prostituierte, die außerdem als Putzfrau in einem Jesuitenkloster arbeitet, und Juan Diegos Schwester Lupe kann Gedanken lesen, aber sie spricht eine eigentümliche Sprache, die nur der Bruder versteht und also ständig dolmetschen muss. Wer der Vater der Kinder ist, weiß nicht einmal Esperanza, die Mutter, ganz genau, aber die Kinder leben bei einem Mann namens Riviera, der auch "el jefe" genannt wird, weil er der Müllkippendeponiechef ist, was auch immer das bedeutet, und möglicherweise ist dieser Riviera ja der Erzeuger. Juan Diego bringt sich mit Büchern, die er auf der Deponie vor dem Verbrennen rettet, das Lesen, das Schreiben und sogar die englische Sprache bei. Eines Tages wird er versehentlich vom mutmaßlichen Vater überfahren, wobei Juan Diego der rechte Fuß zerquetscht und für immer entstellt wird. Der "Müllkippenleser", wie Irving das Kind unermüdlich nennt, wird zum hinkenden Krüppel.
In einer Gegenwartshandlung ist Juan Diego in den Fünfzigern und arrivierter Schriftsteller. Er bereist die Philippinen, um ein Versprechen aus seiner Kindheit einzulösen. Diese Odyssee enthält einige seltsame Begegnungen, aber meistens schläft der herzkranke Schriftsteller, weil ihn Betablocker in die Knie zwingen. In den Schlafphasen träumt er von seiner Kindheit, wovon das Buch wiederum erzählt - "Straße der Wunder" verflechtet die geträumte Vergangenheit und eine Gegenwart, die nicht weniger mystisch und indirekt daherkommt; irgendwann ist nicht mehr auszumachen, was davon im Kontext der Geschichte stimmt, imaginiert oder Grenzerfahrung ist.
Das Buch ist mit Motiven nachgerade geflutet. Zwar gibt es keine Bären und niemand betreibt das Ringen, dafür spielen einige Episoden im Zirkus, Löwen beanspruchen eine große Rolle, und wieder einmal ist die Hauptfigur ein Schriftsteller, der sich viele ironische Gedanken über Lesererwartungen und memoirisches Schreiben macht. Es gibt einige Querverweise auf "Die wilde Geschichte vom Wassertrinker", Irvings zweiten Roman (1989), wobei an solchen Stellen letztlich keine Rolle spielt, ob Irving mit direkt autobiografischen Elementen Täuschungsmanöver konstruiert oder einfach die Lust verloren hat, sich etwas auszudenken. In der Hauptsache jedoch scheint es um die titelgebenden Wunder zu gehen, um jenen Bereich zwischen Esoterik und Wissenschaft, der noch keiner Seite zugeschlagen wurde, und die katholische Kirche mit ihren eigenartigen Regeln bekommt ordentlich ihr Fett weg, während deren Protagonisten - in erster Linie Jesuiten - sehr nett dargestellt werden. Die Figurenschar in diesem Roman ist umfangreich, manch eine Person taucht unvermittelt auf, gewinnt aber sofort zentrale Bedeutung, etwa die Transvestitin Flor, in die sich ein nach Mexiko migrierter Jesuit verliebt, um gemeinsam mit ihr den später schwesterlosen Juan Diego unter ihre Fittiche zu nehmen.
Es gibt im Roman ein einziges Kapitel - Titel "Fünfter Aufzug, dritte Szene" - von ungefähr vierzig insgesamt, das mich überzeugt, gerührt und für ein Weilchen mit dem Rest versöhnt hat. Darin erzählt Irving vom späteren Leben des Helden in Iowa City, noch im jugendlichen Alter und mit der AIDS-Erkrankung der Pflegeeltern konfrontiert. Diese Kapitel verfügt über eine enorme erzählerische Dichte, reduziert in wohltuender Weise die ständigen Wiederholungen, in Klammern gesetzten Anmerkungen und in großer Menge verwendeten Kursiven, diese, mit Verlaub, Zumutung, die der Roman insgesamt ist. Denn das ist er leider. Der Autor hat versucht, Bedeutung durch eine Vielzahl von Andeutungen zu suggerieren, wirft dem Leser quasi eine ungeheure Menge von Indizien vor die Füße, auf dass sich dieser seine eigene, wirre Theorie zusammenbasteln mag. Anders gesagt: Ich hatte auch nach Beendigung dieser fast 800 sehr, sehr langweiligen Seiten nicht die geringste Ahnung davon, worum es auf ihnen ging. Am Unangenehmsten war dabei dieses Gefühl, einer äußerst lustlosen Abschiedsrede zu lauschen, einer vorweggenommenen Traueransprache, deren Redner sich nicht die Mühe gemacht hat, aus den Anmerkungen der Hinterbliebenen jene auszufiltern, die interessant sein könnten und in ihrer Gesamtheit etwas aussagen.
An dieser Stelle könnte die übliche Liste der Iriving-Romane folgen, die den Rezensenten begeistert haben, ergänzt um jene, bei denen das nicht der Fall war, um dieses vergurkte Buch zwischen den anderen einzuordnen. Tatsächlich steht "Straße der Wunder" in deutlichem Zusammenhang zum vorigen Werk, nicht zuletzt, weil es die meisten Elemente daraus repetiert - vom Wunderkind über den Zirkus, Abtreibungsfragen, Kriegserlebnisse, Neu England, die Schriftstellerei u.v.a.m. Auf der anderen Seite steht die maßlose Übertreibung esoterischer Aspekte, unscharfer Ereignisse, vermeintlich origineller Figuren und Illusionen in der Illusion in keinem Zusammenhang mit der erzählerischen Substanz, die es vorher gab. "Straße der Wunder" handelt, um es auf den Punkt zu bringen, von nichts: Dem Leser bleibt überlassen, was er mit dieser Flut von Zufällen, eigenartigen Personen, Geistererscheinungen, Sexgeschichten, bedeutungsschwangeren Andeutungen und bis zum Erbrechen wiederholten irvingschen Eigenartigkeiten anfängt. Im Fall des Rezensenten war die Entscheidung einfach. Dieses Buch ist, von einem einzigen Kapitel abgesehen, nicht lesenswert, aber ein Meisterwerk ist es durchaus: Eine meisterliche Veralberung der Leser.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015
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