Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman.
Michael Köhlmeier, Hanser 2013
Ja. Nein. Weiß nicht.
"Gut" und "schlecht", das sind, obwohl wir dazu neigen, genau das zu glauben, keine absoluten Kategorien, sondern in ihrer alltäglichen Anwendung moralische Axiome, und Moral ist menschengemacht, politisch, wandelbar, zuweilen wachsweich, manchmal Werkzeug, manchmal Waffe, oft Willkür. Ein Mord ist schlecht, denken wir, nehmen das gar als Wahrheit an, aber das Attentat auf den Tyrannen ist so schlecht dann wieder nicht, und die Hinrichtung des Massenmörders vielleicht auch nicht. Im Krieg ist Mord legal. Und damit plötzlich in gewisser Weise sogar gut, denn Kriege gewinnt meist jene Partei, die viele Feinde tötet. Zugleich gut und schlecht aber kann nichts sein, also muss eines von beidem stimmen. Nur: Was? Und: Warum?
Joel Spazierer entzieht sich der Moral, hat nie gelernt, das Paradigma zu verinnerlichen. Als kleines Kind, da hieß er noch András und lebte in Budapest, verbrachte er fünf einsame Tage in der Wohnung der Großmutter, weil er bei einer Razzia übersehen und vergessen wurde. Während dieser Zeit fand der spätere Joel Spazierer heraus, dass er sich selbst genügt, um die Welt zu verstehen, wenigstens mit ihr umzugehen. Sehr gut aussehend, aber wandlungsfähig, intelligent, aber nicht brillant, distanziert, aber nicht unfreundlich, sogar von gewinnender Natur, manchmal naiv, aber ein überwältigend guter Beobachter, zudem über alle Maßen sprachbegabt. Sein Lebensweg führt ihn durch halb Europa, sogar als vermeintlichen Enkel des sozialistischen Helden Ernst Thälmann in die verendende DDR, jenes Land, das mehr als viele andere davon lebte, offensichtliche Verfälschungen als Wahrheiten zu verkaufen, und was immer er von sich preisgibt, ist eine präzise, gut geplante Lüge - die oft sogar sein Gegenüber selbst formuliert; Spazierer lügt dann quasi passiv. Dies stellte die logische Folge einer anderen Beobachtung dar, die er früh macht: Wer gezielt Fragen stellt, will häufig bestimmte Antworten hören und nicht notwendigerweise die Wahrheit, deren Existenz sowieso zweifelhaft ist. Schon bei seinem ersten Verhör, dem viele weitere folgen, setzt der Junge die Antworten "Ja", "Nein" und, vor allem, "Weiß nicht" gezielt ein, um genau jenes Bild zu formen, das der andere ohnehin im Kopf hat. In einem späten Kapitel schafft er es sogar, eine mit allen Wassern gewaschene Verhörspezialistin des MfS zu beeindrucken.
Joel Spazierer durchwandert als menschliches Chamäleon das westliche, schließlich auch das östliche Europa zwischen den Fünfzigern und der Jetztzeit, stiehlt, betrügt, mordet gar, kennt jedoch keine Reue, die auch nur im Kontext von Moral existieren kann. Er tut aber auch Gutes, wenn man so nennen will, gründet Familien, wird liebevoller Vater. Währenddessen rätselt er über die moralischen Phänomene, die ihm zu begegnen scheinen, und nutzt die Erkenntnisse unbeirrbar. Michael Köhlmeier erzählt auf knapp 650 Seiten eine seltsame, gelegentlich amüsante, oft haarsträubende, wissensreiche, manchmal spannende ... ja, was eigentlich? Eine Parabel? Vielleicht ist das Buch eine Falle, die sich genau in dieser Fragestellung manifestiert.
"Die Abenteuer des Joel Spazierer" ist fraglos exzellent geschrieben, mutet unglaublich schlau an, verblüfft mit seinen knappen, glasharten Wendungen, enthält eine Fülle von Episoden, die sehr mitreißend, erschütternd und überraschend sind, aber leider stellt sich oft ein Gefühl der Leere ein, die Zeit dehnt sich, während Fragmente angehäuft werden, die einfach kein Bild ergeben wollen. Einige Passagen und Kapitel sind schlicht langweilig, was auch die vielen Klugheiten nicht auszugleichen vermögen, die sie enthalten. Das mag vor allem daran liegen, dass man mit der Zeit das Interesse für die nahezu völlig emotionslose Figur verliert, die zwar immer wieder neue, verblüffende Tricks aus dem Zauberhut holt, aber von der ersten bis zur letzten Seite erschütternd konturlos bleibt - was, klar, ja auch zum Konzept des Romans gehört: Joel Spazierer ist eine menschliche Metapher.
Insofern kann ich mich, nach einem Urteil über dieses Buch suchend, nur Spazierers Lieblingswendungen anschließen: Ja. Nein. Weiß nicht. Zuweilen war ich euphorisiert, begeistert, dann wieder verstimmt, nachgerade entsetzt, verlor mich in der Rätselhaftigkeit. Am Ende bleibt also das "Weiß nicht" - "Die Abenteuer des Joel Spazierer" ist zweifelsohne ein großes Buch, was die literarische Leistung anbetrifft, doch Nachhaltigkeit entfaltet die Geschichte nicht.