San Miguel. Roman.
T. C. Boyle, Hanser 2013

San Miguel

Ödnis

Der ehemalige Chef des Hanser-Verlags, Michael Krüger, hat in den Jahren 2011 und 2012 eine Reihe von Selbstgesprächen vor laufender Kamera geführt, die allesamt bei YouTube anzuschauen sind. In dieser Reihe ging und geht es um einen Blick hinter die Kulissen des Verlagswesens, und in einer besonderen Folge, die neue Autoren und deren Chancen thematisiert, verdeutlichte Krüger, warum manchmal schlechte Bücher bekannter Autoren veröffentlicht werden und deshalb, weil die Zahl der Programmplätze eben begrenzt ist, nicht so viele gute Bücher von unbekannten Autoren. Verlage, so erklärte Krüger sinngemäß, sind dem Werk ihrer berühmteren Stammautoren verpflichtet, und dazu gehört es dann auch, Romane zu publizieren, die man sogar im Haus für eher misslungen hält.

Hanser ist der deutsche Stammverlag von T. C. Boyle, und "San Miguel" ist wahrscheinlich ein solches Buch.

Der amerikanische Romancier, der wunderbare und amüsante Erzählungen wie - natürlich - "Wassermusik", aber auch "Willkommen in Wellville", "Grün ist die Hoffnung", "América" und viele andere vorgelegt hat (zudem sehr bemerkenswerte Anthologien), bewegt sich mit seinem Werk schon seit einigen Jahren in eine Richtung, die es mir immer schwerer macht, ihm zu folgen. Da Boyle fraglos ein ungebrochen brillanter Erzähler ist, boten auch Rohrkrepierer wie der Identitätswechselroman "Talk Talk" oder die seltsame Architektenbiographie "Die Frauen" und selbst das vergurkte "Dr. Sex" über den Sexualforscher Alfred Kinsey noch genug Potential, um über den fast völlig fehlenden Humor und die eigenartige Regionalität der Themen hinwegzutrösten, die eben, und hier zeigte sich Boyles neue Ausrichtung, die amerikanische Geschichte im Kleinen erzählen, um sie im Großen mit Transparenz auszustatten. Das kann interessant sein, und vermutlich ist es das für die Amerikaner auch, aber für die "Welt da draußen" muss ein Romanautor schon ein bisschen mehr bieten, um sie bei der Stange zu halten. Im vorletzten Roman, "Wenn das Schlachten vorbei ist", dessen Schauplätze übrigens mit denen aus "San Miguel" weitgehend übereinstimmen, waren es die akribische Erzählweise und der politische Kontext der Geschichte, zudem skizzierte Boyle sein Personal besonders eindringlich, aber all das fehlt dem aktuellen Werk leider völlig.

Um was geht es? Nun, das lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Vor der kalifornischen Küste, nicht unweit von Santa Barbara, gibt es eine kleine Inselgruppe, zu der auch das eher karge "San Miguel" gehört. Auf diese Insel zieht in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine kleine Familie, um dort Schafe zu züchten. Finanziert wird das Projekt von der schwindsüchtigen Ehefrau, die sich von der klimatischen Veränderung Heilung erhofft, der tendenzcholerische Zweitmann arbeitet, und es gibt noch eine hübsche Tochter, die sich auf dem Eiland vor allem langweilt. Am Ende des ersten Teils stirbt - wenig überraschend - die Ehefrau, im zweiten Teil kehren Stiefvater und Tochter auf die Insel zurück. Im dritten Teil des Romans erleben wir, in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts angekommen, eine andere Familie auf der Insel. Auch die züchten dort Schafe, sind aber überwiegend viel glücklicher als ihre Vorgänger. Den geschichtlichen Kontext bilden die Weltwirtschaftskrise und der drohende Zweite Weltkrieg, vorher waren es die Armut der oberen Unterschicht und der mählich versiegende amerikanische Traum. Die Gemeinsamkeit der beiden Familien, deren Geschichten erzählt werden, bestehen aus der einsamen Insel und der Schafzucht. Die Einsamkeit wird im dritten Teil etwas gebrochen, da es inzwischen Radios und Flugzeuge gibt; man ist nicht mehr ausschließlich auf das alle paar Monate eintreffende Versorgungsschiff angewiesen.

Nunwohl. Boyle hat ja nicht damit aufgehört, großartig erzählen zu können, wenn man auch den boyleschen Humor mit dem Teleskop in "San Miguel" suchen muss, ohne übrigens fündig zu werden, aber was er da erzählt, vermutlich inspiriert durch die Recherchen zu "Wenn das Schlachten vorbei ist", beschränkt sich auf eine marginale, aber nicht durchgehende Handlung ohne den Hauch eines Spannungsbogens, sehr oberflächlich konturiertes Personal und ansonsten jene Geschehnisse, die man auf einer Schafzucht-Insel irgendwo vor der Küste Kaliforniens nun einmal erwarten würde - Stürme, fremde Besucher, Unfälle, viel Lammfleisch und das gelegentliche Auftauchen der Scherer, eingebettet in eine Art Doku-Soap. Es gelingt dem Autor durchaus, die Atmosphäre und die Besonderheiten des Insellebens zu veranschaulichen, aber wenn es um Emotionen und menschliche Interaktion geht, bleibt Boyle verblüffend zurückhaltend, ist sich nicht einmal dafür zu schade, beispielsweise einfach zu behaupten, eine Person wäre glücklich, statt es zu zeigen. Einzig jener Tochter, um die es im ersten und zweiten Teil auch geht, obwohl ihr Schicksal anschließend in wenigen Sätzen abgehakt wird, wird etwas wie Figurenzeichnung zuteil, leider aber auch in vorhersehbarer und teilweise ziemlich klischeehafter Weise. Das vergleichsweise umfangreiche Personal im dritten Teil muss demgegenüber fast ohne Eigenschaften auskommen.

Bleibt ein Buch, das wieder einmal (eine) amerikanische Geschichte erzählt, in dem viel geschildert wird, aber nur wenig geschieht, und das eine Zähigkeit entwickelt, die bei Boyle langsam typisch zu werden droht. Eine Entwicklung oder Humor, gar Spannung sucht man vergebens. Das Buch ist so öde wie die titelgebende Insel - vermutlich - ist, dabei routiniert heruntererzählt, ohne Tiefe zu entwickeln. Und die Frage, was Boyle mit diesem langweiligen Roman sagen wollte, kann zumindest ich nicht beantworten. Leider: Verschwendete Lesezeit.

Das Buch bei Amazon

zurück

Übersicht: Tom Liehr

©Tom Liehr - http://www.tom-liehr.de - Kontakt