John Irving: In einer Person (Diogenes)

In einer Person

Durchschlüpfer

Eines kann man John Irving nun wirklich nicht vorwerfen: Diskontinuität. Auch sein dreizehnter Roman - "In einer Person", im Original "In One Person", gemeint ist also das Zahlenwort - folgt strukturell wie stilistisch Irvings eigener Tradition. Bären kommen dieses Mal zwar nur als Metapher vor (als "Bären" werden von ihnen selbst solche homosexuellen Männer bezeichnet, die Bierbäuche, dicke Bärte und starke Körperbehaarung pflegen), das Ringen hat wieder zentrale Bedeutung, und wenigstens ein kurzer Abschnitt spielt in Wien. Die Haupthandlung konzentriert sich auf Vermont, das immerhin an Massachusetts und New Hampshire grenzt (jedoch auch schon in vorigen Romanen Schauplatz war). Irving verwendet einen Ich-Erzähler, der später selbst Schriftsteller wird, spielt mit Rückblenden, stetigen Wiederholungen und seinen geliebten Kursiven, der Roman erzählt fast eine komplette Lebensgeschichte. Wie immer also, und dann doch wieder nicht.

Hauptfigur ist Billy Dean, der später William Abbott heißt. In den Fünfzigern, zu Beginn der Romanhandlung, lebt Billy mit seiner vorübergehend alleinerziehenden Mutter und einer - wie immer bei Irving - etwas merkwürdigen, skurrilen, überwiegend liebevollen - Mehr-Generationen-Familie in der Kleinstadt First Sister. Richard Abbott tritt in das Leben von Billy und seiner Mutter, die um Billys leiblichen Vater recht heimlich tut. Der junge William verliebt sich in seinen neuen Vater, den charismatischen Mann, der u.a. die Schauspielerziehung an der örtlichen Schule übernimmt, auf die auch Billy geht. Außerdem sind da noch Kittredge, der nicht weniger charismatische, ruppige, aber gut aussehende Mitschüler, natürlich ein Ringer, und Miss Frost, die Leiterin der Stadtbibliothek. Auch in die verliebt sich Billy. Miss Frost ist schön, doch sehr kräftig gebaut und flachbrüstig. Das gilt ebenso für Billys beste und lebenslange Freundin Elaine, deren winzige BHs Billy unter dem Kopfkissen aufbewahrt.

Miss Frost, die selbst eine sehr geheimnisvolle Vergangenheit hat, hilft dem Jungen dabei, seine sexuelle Identität zu finden - Billy ist bisexuell. Weitere Mosaiksteine auf dem Weg zu dieser Erkenntnis findet Billy vor allem über das Theaterspiel (bevorzug Ibsen und Shakespeare), bei dem die Mutter souffliert und Grandpa Harry hauptsächlich Frauenrollen spielt. Vieles im Umfeld des Jungen ist "geschlechtlich uneindeutig", was, wie er später herausfindet, auch für den eigenen Vater galt.

In "In einer Person" geht es vor allem um Toleranz - und zeitgeschichtlich um das, was mit Schwulen, Lesben, Transsexuellen und den anderen Menschen mit "von der Norm abweichenden sexuellen Präferenzen" während der letzten fünf, sechs Jahrzehnte geschah. Eine zentrale Rolle spielt im letzten Drittel die AIDS-Epidemie, die Anfang der Achtziger einsetzte und damals (bis ins neue Jahrtausend hinein), was beinahe schon in Vergessenheit zu geraten droht, unglaublich viele Todesopfer forderte, wobei auch das enorme Leiden, das mit dem langsamen, qualvollen AIDS-Tod verbunden war, kaum noch Thema ist. Irving ruft all das in Erinnerung, ohne jedoch seine Hauptfigur je in Gefahr zu bringen.

Leider ist diese Hauptfigur die größte Schwäche in diesem ambitionierten Roman, der so vieles gleichzeitig sein will und nur wenig davon tatsächlich ist. William Abbott ist selbst kein Ringer, erlernt aber einen wesentlichen Ringergriff, den so genannten "Durchschlüpfer", eine Verteidigungstechnik, bei der man den Gegner möglichst nahe an sich herankommen muss, um ihn, seine Körperkraft gegen sich wendend, zu Fall zu bringen. Der Begriff steht als Metapher für den Romanhelden: William Abbott schlüpft durch die Jahrzehnte, bleibt, obwohl in homosexueller Terminologie ein "Aktiver", vorwiegend passiv und etwas konturlos, was auch für jene Momente gilt, in denen er handelt. Deshalb langweilt er leider manchmal, was auch die irvingtypischen Dreingaben kaum kaschieren. Ein anderes Problem dieses Buches besteht im oft kaum nachvollziehbaren Wechsel zu drastischen Formulierungen, wenn es um Sex und die "Szene" geht. Das liest sich hin und wieder, als hätte Irving solche Abschnitte von einem anderen schreiben lassen.

"In einer Person" ist also wieder eine Familiensaga, eine Lebensgeschichte, und ein ziemlich politischer Roman, der eindringlich dafür wirbt, sich vom Schubladendenken abzuwenden und Menschen nicht auf wenige Eigenschaften zu reduzieren, aber das gelingt selbst dem Autor nicht ganz, der verblüffend oft und in recht ungewohnter Weise in den Vordergrund tritt, wenn er sich etwa - durchaus nachvollziehbar - gegen den Versuch echauffiert, ausgerechnet Schriftstellern vorzuschreiben, welcher Wortwahl sie sich bitteschön bedienen sollten. Überhaupt sind die Abschnitte, die sich mit der so genannten "political correctness" befassen, für Irving-Verhältnisse überraschend aggressiv, was tatsächlich, um nicht falsch verstanden zu werden, etwas Wohltuendes hat.

Das Buch hat, wie auch im Klappentext erwähnt wird, viele Helden - und dann doch wieder keinen. Seine liebevolle, selbstreferentielle Traditionspflege und das sorgfältig umgesetzte Thema retten es, auch über die nicht wenigen Durststrecken hinweg.

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Übersicht: Tom Liehr

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