Nullzeit. Roman.
Juli Zeh, Schöffling 2012


Nullzeit

Ohne Resonanz

Schon seltsam, wenn man einen Roman liest und sich währenddessen ständig fragt, ob er tatsächlich aus der Feder der auf dem Umschlag genannten Schriftstellerin stammt. Ein geschätzter Autorenkollege nennt sie augenzwinkernd-liebevoll "Schwafeltrine", die gute Juli Zeh, die in ihren überklugen, aufwendig komponierten und mehr als ambitionierten Büchern Bandwurmsätze und Metaphern auffährt, als könne man allein dadurch einen (literarischen) Sieg garantieren.

Ganz anders in "Nullzeit". Der Roman ist ohne Frage kein "furioser Thriller", wie das Zitat auf der Umschlagrückseite behauptet, aber immerhin eine furiose Umorientierung. Wer zuvor "Spieltrieb", "Adler und Engel" und/oder "Schilf" gelesen hat, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass Zeh hier entweder versucht, kommerzieller zu schreiben (wogegen nichts zu sagen ist), oder ein gewieftes Spielchen mit der Lesererwartung treibt. Vielleicht aber auch nichts davon; die Antworten auf diese und einige andere Fragen kennt allein Juli Zeh.

Sven Fiedler wäre beinahe Jurist geworden, hat aber kurz nach dem Staatsexamen die Reißleine gezogen und sich auf die Insel abgesetzt, genauer: Nach Lanzarote. Gefolgt von der Jugendliebe Antje, in die Sven nie wirklich verliebt war, die aber in der neu gegründeten Tauchschule genau jene Lücken füllt, die Sven wenig interessieren, hat er sich auf der Vulkaninsel ein Refugium geschaffen, sein persönliches Rückzugsgebiet vom "Kriegsschauplatz" Deutschland.

Seine aktuellen Exklusivschüler sind Jola, die junge, bildschöne Schauspielerin, die es dem gut vernetzten Vater zu verdanken hat, in der TV-Soap "Auf und Ab" (AuA - jawoll!) zum festen Ensemble zu gehören, und Theo, ihr deutlich älterer Freund, seines Zeichens Schriftsteller, der aber seit dem Jahre zurückliegenden, vielbeachteten Debüt nie wieder nachgelegt hat. Sie nennt ihn den "alten Mann", er schlägt sie - möglicherweise; Erniedrigung spielt in diesem Roman wohl eine Rolle. Da "Nullzeit" aus Svens Sicht erzählt wird, Jolas Version aber in Form von Tagebuchauszügen liefert, kann sich der Leser nie sicher sein, was der Wahrheit entspricht. Jola träumt davon, in der aufwendigen Filmbiografie der Tauchpionierin Lotte Hass die Hauptrolle zu spielen, und Theo träumt - vielleicht - davon, Jola zu behalten. Wovon Sven träumt, wird bis zum Ende nicht klar. Er verliebt sich irgendwie in die junge Frau, gerät, um mal eine themenbezogene Metapher zu wählen, gar in ihren Strudel - und dann ist da auch noch dieser 100-Meter-Tauchgang, den er an seinem vierzigsten Geburtstag absolvieren will, und den er schon lange plant. Dieser soll am letzten Tag von Jolas und Theos Aufenthalt stattfinden.

Es gibt in "Nullzeit" Entwicklungen und einen Spannungsbogen, sogar einen Höhepunkt, vor allem aber die unbeantwortete Frage nach dem Warum. Das liegt in erster Linie an der Hauptfigur, dem Tauchlehrer-Juristen, dem man beides (und all seine Entscheidungen) nicht so recht abnehmen will. Sven ist mal gefühlsgesteuerter Depp und dann wieder sich selbst und das Umfeld perfekt reflektierender Beobachter, schafft es aber nie, sich von der Erzählerin zu lösen, die es einfach nicht lassen kann, ihren Figuren altkluges Geschwätz in den Mund zu legen. Sie präsentiert einen durch und durch konstruierten Protagonisten, der quasi die Rolle der romanfüllenden Metapher übernimmt, aber keinerlei menschliche Züge entwickelt, merkwürdig diffus bleibt. Das immerhin passt zum perfiden, zuweilen klugen (wenn auch nicht ganz logischen) Ränkespiel der B-Prominenz, die Zeh in Form von Jola, Theo und einigen anderen Vertretern der Kategorie "zweitwichtigste Menschen" auftreten lässt.

Nullzeit bezeichnet jene Spanne, die man während eines Tauchgangs zur Verfügung hat, ohne beim Auftauchen Dekrompressionsstopps einlegen zu müssen. Natürlich drängen sich bei einem Roman mit diesem Titel Vergleiche auf, womit man aber in Zehs nasse Falle tappen würde. Er liest sich tatsächlich flott und man kehrt in die reale Welt zurück, ohne das Gefühl zu haben, nennenswert Zeit verschenkt zu haben, aber es bleibt jene - weiter oben angedeutete - Frage. Irgendwie findet sich am Ende alles zusammen, doch damit hat es sich auch schon. Man war Gast in einer seltsamen Welt, in der man nie zu Gast sein wollte, und kehrt unverändert in die Realität zurück.

Leider findet sich nicht einmal jene Begeisterung für das Tauchen, die zur Romanidee führte, im Buch wieder. Zwischen sehr technischen Beschreibungen und den Begegnungen mit ein paar gelangweilten Fischen gibt es unter Wasser nur einen Moment, der das Absonderliche dieses Grenzübertritts veranschaulicht, und ausgerechnet in diesem Augenblick schlägt Frau Zeh mit der Dramatikkeule zu.

Dem Roman fehlt es - mir fällt leider kein besseres Wort ein - an Resonanz. In dem Augenblick, da man ihn beiseitelegt, hört er damit auf, zu schwingen, hat aber eigentlich nie damit begonnen. Themen, die eine solche Resonanz erzeugen könnten, werden durchaus angerissen, etwa die Relativität der Wahrheit, oder die Frage, ob eine versuchte Tat im Hinblick auf die immanente Schuld tatsächlich der ausgeführten Tat gleichkommt, Aspekte wie Erniedrigung und Abhängigkeit, und, klar, "Liebe". Aber den nüchtern konturierten Figuren gelingt es nicht, dem genug Energie zu geben, um ein Nachbeben auszulösen. Man liest ein gutes Buch, nämlich "Nullzeit" von Juli Zeh, aber schon in der Minute danach fragt man sich, ob das wirklich der Fall war.

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