Judas. Roman.
Amos Oz, Suhrkamp Verlag 2015


Judas

Zäh und kleinschrittig

Der Kampf des Staates Israel um die eigene Existenz könnte als Metapher für das Leseerlebnis dienen - zäh, kleinschrittig, entbehrungsreich und mit ungewissem Ausgang. Umso mehr, da dieser Existenzkampf eines der Themen des Romans ist.

Der schmale, hochgewachsene, bärtige und wuschelhaarige Student Schmuel Asch hat die Verlobte verloren, den konkursgegangenen Vater als Studienfinanzierer und den sechsköpfigen "Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung" als Freundeskreis. Fast schon auf dem Weg in die Wüste, um dort zur Ablenkung Aufbauhilfe zu leisten, entdeckt Asch ein merkwürdiges Jobangebot: Ein älterer, behinderter Herr namens Gerschom Wald soll abends intellektuell unterhalten werden. Als Gegenleistung winken karge Kost, spartanische Logis und ein schmales Gehalt. Und außerdem die mysteriöse, attraktive Mittvierzigerin Atalja, die, wie sich später herausstellt, Walds Schwiegertochter ist.

Wir schreiben das Jahr 1959, die Handlung spielt im Winter in Jerusalem, wo man nachts Schüsse aus dem Grenzgebiet hört. Der Staat Israel ist elf Jahre alt, David Ben-Gurion regiert ihn. Gerschom Wald hat den Sohn Micha im Israelischen Unabhängigkeitskrieg verloren. Dessen Schwiegervater, also der Vater von Atalja, war zu Zeiten der Staatsgründung ein Mittstreiter von Ben-Gurion, bis er als Verräter in Ungnade fiel und aus den Reihen der Jewish Agency verbannt wurde.

Ein anderer, weit berühmterer vermeintlicher Verräter war Judas Ischariot, jener Jünger, der gemäß überlieferter Historie zu verantworten hatte, dass Jesus gekreuzigt wurde. Während die Feindes des jüdischen Volks und die Antisemiten allgemein (unter anderem) diesen Umstand weidlich nutzen, wird das Thema von den Juden und jüdischen Gelehrten selbst kaum behandelt. Schmuel Aschs Studien sollten sich genau diesem Umstand widmen. Gab es diesen Verrat wirklich? Und wenn ja - war es nicht letztlich das Verhalten Judas', das den Aufstieg des Christentums überhaupt ermöglicht hat?

Mit all diesen Fragen, winzigen Indizien, Was-wäre-wenn-Szenarien und ähnlichem kann und muss man sich vielleicht beschäftigen, wenn man die ideologischen und philosophischen Hintergründe erforschen will, die einerseits die Situation im so genannten Nahen Osten ausmachen und andererseits die offenbar endlosen Auseinandersetzungen zwischen Religionen und religiösen Volksgruppen begründen. Wenn man, nun, vielleicht nicht verstehen, wenigstens aber etwas transparenter gestalten möchte, was die Protagonisten und ihre Vorgänger antreibt und -trieb. Es sei angemerkt, dass ich es ganz persönlich für, um es vorsichtig auszudrücken, für etwas idiotisch halte, wenn sich Gruppierungen anfeinden und bekämpfen, (unter anderem) weil vor mehreren tausend Jahren möglicherweise 30 Silberlinge geflossen sind - oder auch nicht. Mit Verlaub, aber der Vergleich zu sonstwo umfallenden Getreidesäcken liegt zumindest mir da sehr nahe - was nichts verniedlichen, sondern die Eigenartigkeit der Umstände unterstreichen soll; Umstände, die zugleich exemplarisch sind, weil ähnliche die meisten irdischen Konflikte speisen und gespeist haben. Allein, die Welt ist, wie sie ist, und Amos Oz' neuester Roman kann möglicherweise dabei helfen, die komplexe Situation und all das ihr vorangegangene und möglicherweise noch folgende Grauen zu erahnen. Und damit die nach wie vor ungeklärte Zwei-Staaten-Frage, das Selbstverständnis des jüdischen Volks, den Zionismus und sein Gegenteil, erschütternde Phänomene wie Antisemitismus und die Religionsgeschichte der letzten zwei, drei Jahrtausende.

Doch "Judas" ist kein Sachbuch, sondern ein Roman, und als solcher muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, eher unattraktiv zu sein. Zwar gelingt es Oz, die Atmosphäre jener Jahre äußerst anschaulich wiederzugeben, insofern sich das beurteilen lässt, aber auf mehr als nur marginale Handlung und Entwicklung muss man als Leser nahezu vollständig verzichten. Die Hauptfigur, Schmuel Asch, ist jemand, dem man spätestens ab der hundertsten Seite (plus/minus) nur noch ins schwerfällige Gesäß treten möchte, und der Zauber, der von der mysteriösen Atalja auszugehen scheint, verkommt mit der Zeit zur reinen Behauptung. Die akribisch geschilderten Abläufe im seltsamen Haus von Gerschom Wald, dazu die detailliert wiedergegebenen Verhaltensweisen Aschs - wir erfahren beispielsweise regelmäßig und ausführlich, wie er sich auf Spaziergänge vorbereitet, wodurch der Babypuder, mit dem er Bart und Kopfhaare behandelt, zum müden Treppenwitz wird - dienen auch nicht gerade dazu, etwas mehr als nur einen Hauch von Spannung aufkommen zu lassen. Womit nicht das gemeint ist, was zuweilen als "Suspense" bezeichnet wird, sondern viel, viel weniger, nämlich die simple Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Vorankommen, also, um es einfacher zu sagen, Interesse für die Figuren und ihre Schicksale. Natürlich lassen sich diese Zähigkeit und Entwicklungsarmut auch wieder als Metaphern lesen, als Gleichnisse für die Stagnation in der Region, den aussichtslosen Status Quo, die faktische Unmöglichkeit, dass Völker miteinander auskommen werden, die sich faktisch hassen: Das Paradoxon kann niemals aufgelöst werden, ohne die Geschichte - behauptete wie tatsächliche - zu verleugnen, wozu niemand fähig oder bereit ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt diese Vermutung Oz' Intention sehr nahe, wodurch die Schwerfälligkeit von "Judas" zum Stilmittel, quasi zur Leinwand wird, auf der Amos Oz seine Studie skizziert, die für Menschen, die näher an Thematik und Geschehen sind, möglicherweise sogar skandalöse Thesen enthält, aber unterm Strich ist das Buch einfach ein bisschen langweilig und altbacken. Für das zeitgeschichtliche Dokument, das enthalten ist, für die zugrundeliegende Sichtweise und Fragestellung hätte es jedoch nicht des Romanformats bedurft.

"Judas" ist eine Geschichte über Loyalität, Märtyrertum, Religion, durchaus auch Liebe und Freundschaft, vor allem aber über die nicht eben leicht verständliche Situation, in der sich all die Menschen rund um die östliche Mittelmeerküste befinden. Der Roman beleuchtet in diesem Zusammenhang einige Aspekte, die möglicherweise bislang ausgeklammert wurden, und er wirbt um Verständnis - letztlich für alle Beteiligten. Aus meiner persönlichen Sicht unterstreicht er jedoch vor allem die Frage, was das eigene Leben wert ist, was es lebenswert gestalten kann, wenn man sich in einem Umfeld befindet, in dem die politischen und philosophischen Hintergründe so viel wichtiger zu sein scheinen als der Einzelne. Und die Antwort hierauf ist nicht weniger als fundamental erschütternd.

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ROMAN.
rororo, 28. August 2015


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