Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Roman.
Joël Dicker, Piper 2013


Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Brillante Satire

Persiflagen auf den Literaturbetrieb und die Attitüde erfolgreicher Autoren gibt es zuhauf, von Tom Sharpes "Der Renner" bis "Lila, Lila" von Martin Suter. Ihnen ist gemein, dass die Karikatur plakativ ausfällt, die Seitenhiebe sichtbar sind, Reise und Ziel feststehen. Von der ersten Seite an weiß man, worum es geht.
Ganz anders beim Erfolgsroman des zum Erscheinungszeitpunkt 30 Jahre jungen Franzosen Joël Dicker, der im Heimatland Preise gewann, hohe Auflagen erzielte und in Dutzende Sprachen übersetzt wurde. Die 700-Seiten-Schwarte "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" mutet auf den ersten, sogar zweiten Blick an, als wäre all das zutiefst ernstgemeint, als würde es sich tatsächlich um eine Art Krimi, eine Neuengland-Saga, eine herzzerfetzende Liebesgeschichte und einen Roman über das handeln, was Dicker als "Schriftstellerkrankheit" bezeichnet, nämlich schlicht so genannte Schreibblockaden. Der Kunstgriff, den der Autor gewählt hat, besteht darin, auf jedwede Lakonie und selbst subtilsten Humor zu verzichten - der fette Schmöker entpuppt sich nur ganz gemächlich als völlig haarsträubende Blödelei. Hin und wieder gibt es Hinweise, wenn Dicker beispielsweise einen Polizisten im Jahr 1975 (!) an einem ordinären amerikanischen Hot-Dog-Stand wie selbstverständlich alkoholfreies Bier kaufen lässt. Oder wenn ein erschossener Polizist in einem von innen verriegelten Hotelzimmer vorgefunden wird, aber absolut niemand darüber nachdenkt, wie das möglich war.

Marcus Goldman, natürlich in Dickers Alter, hat, wie das eben so ist, einen Erfolgsroman geschrieben, irre Kohle eingestrichen, kann sich eine schnuckelige Sekretärin leisten, mit weiblichen Hollywoodstars poppen und auch ansonsten den Dicken schieben. Leider aber fehlt ihm die Idee für das Folgebuch. Das muss er auf jeden Fall schreiben, weil er mit dem Verlag, repräsentiert durch einen Ganzkörperschließmuskel namens Barnaski, der keinerlei Eigenschaften besitzt, außer ein gieriger Volldepp zu sein, einen Vertrag über weitere fünf Romane abgeschlossen hat - geldgeile Menschen unter sich. Aber zum Glück gibt es Harry Quebert, seinerseits Erfolgsautor, der am Rande eines beschaulichen Neuenglandstädtchens namens Aurora auf einem Landsitz hockt, Möwen füttert und vor ein paar Jahren, am College, Goldmans Mentor war. Dieser Harry Quebert hat im Jahr 1975 einen Roman geschrieben, Titel: "Der Ursprung des Übels" - verblüffenderweise eine Liebesgeschichte. Dieses Buch, satte 15 Millionen mal verkauft, hat Quebert einen Spitzenplatz im Schriftstellerolymp verschafft, zum erfolgreichsten und angesehensten Autoren Amerikas gemacht - all diese Sachen eben, das kennt man ja, so läuft es schließlich fast immer. Allerdings hat Quebert ein kleines Problem: Just als Goldman bei ihm in Schreibklausur gehen will, graben seine Gärtner die Leiche eines Mädchens aus. Nämlich jene von Nola Kellerman, die im Jahr 1975 fünfzehn und Queberts Geliebte war. Mehr oder weniger. Eigentlich eher platonisch. Was den alten Herren nicht daran hindert, ihr auch fast vierzig Jahre danach noch hinterherzutrauern. Ewige Liebe eben. Das kennt man ja.
Lange Rede: Die Hölle bricht los, Quebert wird des Mordes verdächtig, aber Goldman nimmt die Ermittlungen auf. Warum man Quebert verdächtig? Nun, auf ihren seit fast 35 Jahren verrottenden Resten liegt das erstaunlicherweise gut erhaltene Manuskript seines Erfolgsromans.
Die Bewohner von Aurora, allesamt so intelligent wie gebrauchte Turnschuhe, stehen dem jungen Romancier völlig freimütig Rede und Antwort, gestehen dabei gerne auch ohne Not Straftaten, wobei sie sich präzise und wortgetreu an mehrere Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse erinnern, und so dauert es nicht lange, bis der Laiendetektiv entdeckt, dass irgendwas im Busch ist. Was genau, darauf muss der Leser keine 650 Seiten warten, die in etwa dem literarischen Anspruch eines beliebigen RTL-"Frauentausch"-Kandidaten genügen. Und natürlich ist es ganz anders, als man bis dorthin denkt. Vorausgesetzt, man denkt überhaupt - für die Lektüre dieses Ziegels ist es nämlich nicht erforderlich. Sein Motto lautet: Irgendwas wird am Ende schon dabei herauskommen. Schließlich stimmen nicht einmal die Vorgaben, also spielt es letztlich keine Rolle.

"Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" fährt jedes denkbare Klischee auf, bricht das schriftstellerische Urprinzip "Show, don't tell", wechselt pausenlos die Perspektiven, Stil und Aufbau, verzichtet auf jede Logik, besteht zu geschätzt 70 und gefühlt 100 Prozent aus Behauptungen - und erzählt: Rein gar nichts. Einfach überhaupt nichts, das aber überwiegend aus zweiter Hand. Diese alles überstrahlende Liebe, um die es vordergründig geht, wird nie greifbar, die Weisheiten über die Schriftstellerei, den Kapiteln vorangestellt, bewegen sich - wie übrigens auch die Zitate aus den "großen" Büchern der beiden Autoren - auf dem Niveau von Abreißkalendersprüchen, wenn zum Beispiel der große (alte) Schriftsteller dem großen (jungen) Schriftsteller mit der bahnbrechenden Erkenntnis konfrontiert, dass man die "wahre Liebe" erst erkennt, wenn man sie verloren hat - oder dass man für die letzten Kapitel noch ein paar "Asse im Ärmel" haben sollte. Diese Kalendersprüche markieren allerdings nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs: Der gesamte Roman ist in diesem Stil verfasst.

Joël Dicker hat eine Wahnsinnsleistung vollbracht, nämlich über mehr als 700 Seiten solchen Käse zu erzählen, ohne je der Versuchung zu erliegen, die Maske fallen zu lassen. Er muss beim Schreiben pausenlos gelacht haben, und erst recht danach, als dieses überflüssigste aller Bücher zum Welterfolg wurde.  Okay, die ans Absurde grenzenden Telefonate Goldmans mit der eigenen, hamsterhirnigen Mutter, neben der Peggy Bundy ("Eine schrecklich nette Familie") wie die Kandidatin für einen Nobelpreis in Quantenphysik wirken würde, oder das überzogen willkürliche Durcheinanderwürfeln aller bisherigen "Erkenntnisse" im Schlusskapitel - beides hätte nicht sein müssen, da sind die Pferde mit Dicker durchgegangen. Hiervon abgesehen jedoch ist es dem jungen Franzosen aufs Vortrefflichste gelungen, alle zu veralbern, und ihnen - damit auch mir - kompletten Schwachsinn zu verkaufen, Luft in Tüten, eine verschlammte Teichunke als Miss Universum. "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" ist allerfeinste Konzeptkunst und ein mächtiges Manifest gegen die Borniertheit des Literaturbetriebs. Dass so ein unfassbar langweiliges, schlecht geschriebenes und noch schlechter recherchiertes Buch ein solcher Erfolg werden konnte, sagt mehr als alles. Herr Dicker, ich verneige mich in tiefster Ehrfurcht.

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