Hannahs Briefe. Roman.
Rolando Wrobel, Aufbau 2013

Hannahs Briefe

Für geschichtlich Interessierte, die viel Wohlwollen mitbringen

Brasilien im Jahr 1936: Der jüdische-polnische Immigrant Max Kutner führt seine eigene Schuhmacherwerkstatt in Rio, der "wohlwollende Diktator" Getúlio Vargas das Land. Die Wirtschaft floriert, aber Misstrauen und Skepsis der Obrigkeit wachsen täglich. Deshalb wundert sich Kutner nur wenig, als er eines Abends abgeholt wird, um fortan nachts für die Geheimpolizei auf Jiddisch verfasste Privatbriefe ins Portugiesische zu übersetzen. Im Rahmen dieser Tätigkeit stößt der ansehnliche Mittdreißiger auf die Korrespondenz zwischen einer Guita, die in Argentinien lebt, und ihrer Schwester Hannah, die in Rio de Janeiro wohnt. Er verliebt sich in diese Hannah und versucht, sie ausfindig zu machen - was ihm auch gelingt. Aber die hinreißende, über alle Maßen attraktive Frau ist nicht jene, die er aus den Briefen zu kennen glaubt, sondern eine "Polackin", also eine Prostituierte. Es gibt das Leben, das Hannah ihrer Schwester schildert, überhaupt nicht. Aber auch Max ist nicht der, der er zu sein vorgibt.
Und überhaupt.

"Hannahs Briefe" vermittelt - vermutlich - das Zeitgefühl der Epoche, hat etwas Schalkhaftes, jenen tragischen Humor, der selbst in ausweglosen Situationen zum Schmunzeln bringt, und bewegt sich durch viele Themen, ist ein politisches Buch, eines über die jüdische Diaspora, über Armut, Zwänge und Selbstverleugnung, ein Liebesroman, eine Milieustudie und ein Text über die eigene Identität. Aber es ist nichts davon auf wirklich überzeugende Weise, wie ich finde.

Es beginnt damit, dass Kutners plötzliche Liebe nur behauptet ist; die Briefe werden zwar auszugsweise wiedergegeben, aber, mit Verlaub - diese Auszüge enthalten nichts, das geeignet wäre, mich von den  glühenden romantischen Anwandlungen der Hauptfigur zu überzeugen. Erschwert wird die Empathie für den chaplinesk tragikomischen Helden durch den Aufbau der Erzählung und ihren Stil. Wrobel reiht Episoden aneinander, ohne Brücken zu bauen, schreibt auf eher anspruchslose Weise, dabei äußerst deskriptiv, spricht häufiger für seine Figuren, als sie für sich selbst sprechen zu lassen. Das ist möglicherweise dem Versuch geschuldet, bezogen auf die Zeit der Handlung Authentizität erzeugen zu wollen, aber diese anachronistische Erzählweise, die nach einem langgezogenen, sehr harmlosen Witz unter älteren Herren klingt, wendet sich auf seltsame Art gegen Sujet und Figuren. Als Leser stolpert man Max Kutner hinterher, der seiner eigenen Identität und einer aussichtslosen Liebe hinterherstolpert, und wider alle Bedrohungen nie ernsthaft in Gefahr ist. Die vielen Themen und Hintergründe verwandeln sich in eine beschauliche Kulisse, für die das Interesse allmählich nachlässt. Selbst drastisch beunruhigende Szenen und dramatische Geschehnisse versanden im oberflächlichen, fabulierenden Geschwätz, werden vom hölzernen Stil und der abgehackten, gelegentlich verwirrenden Dramaturgie geschliffen. Am Ende tritt der Erzähler selbst auf, um die Fäden zusammenzuführen, setzt also noch eine Abstraktionsebene oben drauf, womit mein Interesse fast völlig erlosch. Ziemlich ratlos hinterließ mich die abschließende Konfrontation des Helden mit dem Rio de Janeiro der Jetztzeit, eine Mischung aus nostalgischer Verklärung und möglicher Fiktionalisierung der Vorgeschichte, wodurch für mich ein Übermaß an zwanghafter Rätselhaftigkeit erreicht war. Dem Text ließen sich fraglos einige Botschaften extrahieren, er zeigt eine Epoche und Lebensweise, über die man hierzulande (zu) wenig weiß, skizziert auch das Brasilien jener Zeit relativ anschaulich, manchmal - leider selten - sogar eindringlich, aber entwickelt zugleich auch eine muffige, alberne Onkelhaftigkeit, die nicht gerade geeignet war, mich für das Buch einzunehmen.

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