David Brin: Existenz (Heyne)

Existenz

Werden wir überleben?

Im Jahr 1961 legte der US-Physiker Frank Drake eine Gleichung vor, die seitdem seinen Namen trägt, und nach der man berechnen könnte, wie wahrscheinlich intelligentes Leben auf anderen Planeten im Universum ist. Leider sind viele Variablen in dieser Gleichung unbekannt, so dass sie bislang kein Ergebnis kennt. Der amerikanische SF-Autor und Doktor der Astrophysik David Brin hat übrigens später an neuen Fassungen dieser Gleichung, die auch "SETI-Formel" genannt wird, mitgearbeitet.

Und genau darum geht es in "Existenz" auch, diesem über 900 Seiten schweren Ziegel, der, um es möglichst früh zu sagen, ganz exzellent von Andreas Brandhorst übersetzt wurde. Brandhorst zeigt immer wieder, wie wichtig engagierte Übersetzer sind - die deutschen Übertragungen neuer Pratchett-Romane ("Scheibenwelt") hängen nach seinem Weggang schwer in den Seilen.

Kern der Handlung bildet also die Frage, ob es da draußen intelligentes Leben gibt - und warum wir, wenn das der Fall ist, noch nie von Außerirdischen gehört haben. "Existenz" spielt in der nicht sehr weit entfernten Zukunft; aus dem Internet ist das "Weltnetz" geworden, das dazu in der Lage ist, die Realität mit zig "Layern" zu überlagern, wozu meist "Tru vu"-Brillen, Implantate, subvokale Befehle und immer intelligenter werdende KIs benutzt werden. Irgendwann gab es einen "Furchtbartag", der die Welt an den Rand des Abgrunds führte, aber Brin erklärt nicht, welche Katastrophe Auslöser war. Auf der Erde leben 10 Milliarden Menschen. Der Wasserspiegel ist dramatisch gestiegen, weshalb etwa an der gesamten Küstenlinie von China eine gewaltige Mauer errichtet wurde. Eine weltweite Vereinbarung namens "Big Deal" hat dazu geführt, dass es Heimlichtuerei der Mächtigen nicht mehr gibt. Ersatzweise ist ein neues Kastenwesen entstanden, dessen Protagonisten - in der Hauptsache Superreiche - Verschwörungen planen. Eine andere Gruppe namens "Abkehrbewegung" forciert den grundsätzlichen Ausstieg aus dem technologischen Fortschritt. Verschwörungen und durch sog. "Smartmobs" untersuchte Zeichen für solche bilden einen nicht unwesentlichen Seitenaspekt der Handlung.

Und dann findet ein Astronaut, der im Orbit mit Aufräumarbeiten beschäftigt ist, ein Artefakt - einen seltsamen kristallinen Brocken. Bei näherer Untersuchung stellt sich heraus, dass es sich um eine Art Raumschiff handelt, in dessen Innerem simulierte Lebewesen, die von diversen Welten stammen, seit Millionen von Jahren ein originelles Dasein fristen. Jetzt, im Moment des Kontakts, vermitteln sie ihre dringliche Botschaft: Alle Zivilisationen sind zum Untergang verdammt. Irgendwann wird unumgänglich der Zeitpunkt kommen, an dem sie sich selbst vernichten - immer und ausnahmslos. Genau deshalb gibt es keine Nachrichten von noch existierenden fremden Zivilisationen. Sie sind allesamt zum Scheitern verdammt. Denn die Fallstricke sind zahlreich und so gut wie unvermeidbar, innere wie äußere. Existenz ist ein Minenfeld.

Wer ein Epos mit ballernden Raumschiffen oder eine Cyberpunksaga erwartet, wird von "Existenz" enttäuscht werden - dieser mächtige, packende und hochintelligente Roman widmet sich seinen Figuren äußerst intensiv und kehrt immer wieder zur Kernfrage zurück, die er aus verschiedenen Perspektiven gewissenhaft und wissensreich beleuchtet. Als sich herausstellt, dass das Kristallobjekt letztlich eine Art Virus ist (und zwar einer von Billionen), der die Menschheit dazu bringen soll, selbst solche Kristallviren herzustellen und sich aufzugeben, weil es ohnehin keine Perspektive gibt, gerät die Menschheit in eine schwere Sinnkrise. Brins Personal versucht, Wege aus dieser Krise zu finden - jeder auf seine Weise.

"Existenz" liest sich wahrlich nicht leicht, aber die Lektüre ist dennoch ein großes Vergnügen - allerdings eines mit einem merkwürdigen Beigeschmack, denn die immer wieder eingeflochtenen Gedanken zur Grundfrage - Werden wir überleben? - sind durchaus geeignet, Fatalismus aufkommen zulassen. Allerdings geht es um Menschen, und Menschen zeichnen sich vor allem dadurch aus, in Krisensituationen originelle Antworten zu finden - und sich immer wieder selbst zu überraschen.

David Brin markiert - neben Iain Banks, Vernor Vigne und einigen wenigen anderen - eine Klasse von SF-Autoren, denen es nicht genügt, Zukunftsszenarien zu entwerfen, um darin adaptierte Jetztzeithandlungen zu schildern. Es geht ihm/ihnen um mehr, nämlich um die Zukunft selbst: unsere Zukunft. Die Literatur, so unterhaltsam sie auch ist, wird hier zum Transportmittel für eindringlich vorgetragene Botschaften.

Sehr dringende Leseempfehlung.

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Übersicht: Tom Liehr

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