Einzelzeit. Roman.
Siegfried König, CreateSpace 2014

Einzelzeit

Was würde ich tun?

Felix Grau ist fünfzehn, als er feststellt, dass er die Zeit anhalten kann. Der eher unbeliebte und unscheinbare Schüler steht neben dem widerwärtigen Olaf auf dem Zehn-Meter-Brett, Olaf macht sich über Felix lustig, der sicher nicht springen wird, und dann geschieht plötzlich etwas: Die Zeit steht still. Alle verharren, die Geräusche verstummen, nur Felix Grau kann sich noch bewegen, und er nutzt die überraschende Fähigkeit. Die er, wie er kurz darauf feststellt, nach Belieben einsetzen kann, jedoch - noch - nicht wird: Er ist überrascht, entsetzt, schockiert, fasziniert und, ja, auch versucht. Der Versuchung widersteht er anfangs, jedenfalls, wenn es um echte Untaten geht, aber sie wächst, wird immer drängender. Im Moment des Zeitstillstands sind Graus Möglichkeiten unbegrenzt, und umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, enttarnt zu werden, faktisch null.

Siegfried König erzählt in diesem als Biografie angelegten Roman von einem, der alles tun kann, ungestraft und unentdeckt. Felix Grau - also "der Glückliche", zugleich aber auch der Farblose - mogelt sich fortan durchs Leben, recherchiert Prüfungsfragen in dem Moment, in dem sie gestellt werden, beobachtet seine Mitmenschen, dringt in ihre Privatsphären ein, verschafft sich Informationen und Möglichkeiten. Er rächt sich am fiesen Olaf und er findet über das Mädchen, in das er sich verliebt, Dinge heraus, die ihm helfen sollen, die Angebetete zu erobern, was übrigens zunächst scheitert. Felix wird älter, erfährt mehr über seine Fähigkeit und die möglichen Zusammenhänge, aber er wird auch abgebrühter, schonungsloser, egoistischer. Er sinniert über die Zeit und ihre Bedeutung, generell und in seinem speziellen Fall.

"Einzelzeit" verwendet die Eigenart seiner Hauptfigur aber nur vordergründig für einen "fantastischen" (das Adjektiv scheint mir nicht ganz zu passen) Plot; das Thema des Romans ist die Frage, was aus Menschen wird, die ohne jedes Risiko alle moralischen und ethischen Schranken unterlaufen können. Die Antwort im speziellen Fall ist zwingend, und man denkt bei der Lektüre natürlich darüber nach, wie man sich selbst verhalten würde. Möglicherweise nicht exakt wie Felix Grau, aber vermutlich wäre die Richtung eine ähnliche. Am Ende stehen Einsamkeit und Entmenschlichung, und der Weg dorthin ist opferreich. An dieser Stelle unterscheidet sich das Buch von den anderen, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt haben, etwa "42" von Thomas Lehr.

Allerdings gibt es auch Kritikpunkte. Obwohl er über ungeheure Möglichkeiten verfügt, verhält sich Felix Grau, wenn er Rache verübt, seltsam infantil. Das ist einerseits zwar auf erschütternde Weise amüsant, trägt der Figurenentwicklung aber nicht unbedingt Rechnung. Der Struktur der Geschichte ist geschuldet, dass es keine (ernstzunehmenden) Gegenfiguren, keine Widersacher gibt; Felix Grau vereint sämtliche Aspekte. Das nimmt ein wenig Spannung, fokussiert andererseits natürlich aber auch auf die entscheidenden Fragen, darunter eben jene, wie man sich selbst in dieser Situation verhalten würde.

Für eine Selbstveröffentlichung ist der Roman übrigens wohltuend fehlerarm, wenn auch - leider - nicht ganz -frei. Siegfried König ist sprachlich sattelfest und weiß, wie man erzählt. In Zusammenarbeit mit einem professionellen Lektor hätte aus dem sehr guten Buch vielleicht sogar ein exzellentes werden können.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

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Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:

NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015


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