Einsamkeit und Sex und Mitleid. Roman.
Helmut Krausser, DuMont 2011

Einsamkeit und Sex und Mitleid

Ein Kleinod

Natürlich ist man versucht, den an die erste Zeile der Nationalhymne angelehnten Titel wortspielerisch zu missbrauchen: "... sind des Peches Unterpfand" oder ähnlich. Tatsächlich aber geht es in diesem Buch nicht um so simple und kaum greifbare Kategorien wie Glück oder Pech, sondern um Begehrlichkeiten, Träume, Wünsche und diesen bei Scharlatanen so beliebten Begriff "Selbstverwirklichung" - unterm Strich also: Das Leben. Und darum, was das Leben mit einem macht. Denn so herum funktioniert es meistens, und nicht etwa umgekehrt, wie wir alle glauben wollen.

Es beginnt irritierend und bleibt das auch über weite Strecken. Krausser erzählt von einem Typen, bei dem eingebrochen wird, dann von einem Ehepaar, dessen spontane Trennung von der Gattin ausgerufen wird, anschließend von einem fünfzehnjährigen Mädchen, von dem sich ein kaum älterer arabischer Junge Oralsex wünscht, danach von einem mittleren Manager, dem auf der Bahnfahrt von Berlin nach Bielefeld die Sneakers geklaut werden. Und so weiter. Jeweils personal, also aus Sicht und im Duktus der Hauptfigur der Episode, reiht der Autor in enormer Taktung Ereignisse aneinander, skizziert eine Flut von Personen, die jeweiligen Lebenssituationen, die soziale Verortung und all das.  Wir bewegen uns durch die Lebensmittelabteilung von Karstadt, durch Kreuzberger Parks, Sozialbauwohnungen, Vorstadtvillen, Bahnhofsvorplätze und Kneipen.

Die Schlagzahl in dieser Episodenerzählung ist hoch, die Wechsel folgen rasch, manchmal innerhalb weniger Sätze, um dann wieder etwas länger bei einer Figur zu verweilen. Nach und nach formt sich aus dem vermuteten Durcheinander etwas Strukturelles, lässt sich die Gemeinsamkeit erahnen, und am Ende gibt es die auch faktisch. Krausser verknüpft alle Handlungsstränge, überrascht mit einer subtil vorbereiteten Schlusspointe, und danach, am Ende der rasanten Tortur, kann man endlich durchatmen, um sofort wieder zu erstarren, weil einem klar wird, was da nicht direkt gesagt worden ist, aber gemeint war.

Wow. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Ja, mag sein, dass der kleine König Zufall hin und wieder zu regieren versucht hat, aber wer das als Kriterium ansetzt, hat die Sache nicht verstanden. Äußerst cool, äußerst lässig - vor allem literarisch -, und zugleich tiefgründig, rührend, schockierend, anschaulich. Packend erzählt, sauber konstruiert, da ist keine Zeile zu viel oder zu wenig. Ein Kleinod.

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