Die Chance. Roman.
Stewart O'Nan, Rowohlt 2014


Die Chance

Stochastik für Romantiker

Marion und Art sind seit dreißig Jahren verheiratet, stehen aber gleich in mehrfacher Hinsicht vor dem Aus: Die Ehe ist - nicht zuletzt durch Arts Seitensprung - zerrüttet, von der Liebe scheint nicht mehr viel übrig zu sein, und auch wirtschaftlich geht es den beiden an den Kragen. Deshalb kratzen sie ihr letztes Geld zusammen, um noch einmal dorthin zu fahren, wo die Ehe vor drei Dekaden begann und nun enden wird: An die Niagarafälle. Am Tag nach der Rückkehr wollen sie die Scheidung einreichen, damit wenigstens Marion die Chance erhält, ein wenig Normalität zu retten.

Tatsächlich hält sich der Reiz der Umgebung stark in Grenzen, was nicht nur daran liegt, dass die Erinnerung romantisch verklärt ist: Zwischen teurem Nippes, Spielcasinos und ganzen Touristenarmeen ist die eigentliche Attraktion, das Naturschauspiel, längst zur Kulisse verkommen. Doch Art und Marion sind nicht nur hier, um in Nostalgie zu schwelgen. Das bisschen Geld, das noch übrig ist, will Art nach eine Variante des Martingalsystems so beim Roulette setzen, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, den Einsatz zu verdoppeln und die Pleite doch zu umgehen. Und damit auch die Scheidung, wie er hofft.

"Die Chance" ist eine Bestandsaufnahme, die Skizze einer Ehe, die - natürlich - liebevoll begann und in den Augen ihrer Protagonisten ganz unterschiedlich betrachtet wird: Während Art durchaus noch hofft, sieht Marion die Trennungsoption eher optimistisch. Tatsächlich besprechen sie das nicht direkt, belassen vieles bei Andeutungen, und sie sind längst nicht nur ehrlich zueinander, waren das auch in der Vergangenheit nicht immer, wie sich herausstellt.

Während dieser drei Tage setzen allerlei Erkenntnisse ein. Stewart O'Nan gibt seinen Figuren, aus deren Perspektiven er wechselnd, zuweilen vermischt erzählt, auf liebevolle, aber keineswegs romantisierende Weise viel Raum, widmet sich den Kleinigkeiten, Gedanken, Gesten, Abläufen und ihren Interpretationen. Auf diese Weise entsteht ein Bild, das zugleich exemplarisch und sehr originell ist. Obwohl letztlich nicht viel geschieht, vom unvermeidlichen Showdown am Roulettetisch natürlich abgesehen, entsteht beim Leser das Gefühl, dieses merkwürdige, in seiner Normalität liebenswerte Ehepaar schon eine ganze Weile zu begleiten.

"Die Chance" ist ganz einfach ein schönes Buch, ohne nur einfach zu sein. Man braucht nicht immer den ganz großen Konflikt, um eine spannende Geschichte zu erzählen, an deren Ende die Einsicht steht, dass Liebe keine Frage der Wahrscheinlichkeit ist. Sondern schlicht: Eine Frage der Liebe.

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