Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie. Roman.
Katherine Dunn, Berlin Verlag Taschenbuch

Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie

Phantomschmerz

Olympia "Oly" Binewski ist rotäugig, buckelig und zwergenwüchsig. Damit landet sie im Vergleich zu ihren Geschwistern leider nur auf einem hinteren Platz der Originalitätsrangliste. Schließlich hat der Bruder Arturo "Arty" keine Arme oder Beine, sondern flossenartige Auswüchse direkt an Schultern und Hüfte, und ist außerdem ein brillanter Rhetoriker. Electra "Elly" und Iphigenia "Iphy" sind zwar hübsch, aber lediglich bis zur Körpermitte. Alles von dort aus abwärts teilen sich die siamesischen Zwillinge, die zudem begnadete Klavierspielerinnen sind. Und dann ist da noch Fortunato "Chick" Binewski, der zwar normal aussieht, aber über eine ganz besonders absurde Begabung verfügt.
Die Kinder von Aloysius "Al" und Lilian "Chrystal Lil" Binewski sind nicht von ungefähr so, wie sie sind.  Tatsächlich hat das Ehepaar während der Schwangerschaften wilde Experimente angestellt, um besondere Kinder zu bekommen. Medikamente, Alkohol, Drogen, zuweilen sogar gammastrahlende Isotope spielten ihre Rollen. Kaum verwunderlich, dass nicht alle Kinder lebend zu Welt kamen. Auf die verbliebenen allerdings ist man redlich stolz.

Dieses Kuriositätenkabinett namens "Binewski" betreibt ungefähr in den mittleren Siebzigern einen Wanderzirkus, dessen Hauptattraktion jene Kinder sind. Diejenigen, die leben, bestreiten eigene Shows, von Oly abgesehen, die nicht originell genug ist, und die Ergebnisse der gescheiterten Experimente werden - in Formaldehyd eingelagert - in einem Wagen ausgestellt, den alle "Müllschlucker" nennen.  Außerdem gibt es Horst, den Katzenbändiger, und viele - ausschließlich rothaarige - Mädchen, die die Fahrgeschäfte und Imbissbuden betreiben. Der Zirkus ist ein Mikrokosmos, eine Welt für sich, die den normalen Menschen, die überall in den USA zu den Shows kommen, viel mehr zu zeigen vermag, als sie eigentlich sehen wollen.
Doch die Kinder werden älter und entwickeln sich. Vor allem Arty entdeckt die Macht seiner Stimme und Andersartigkeit, die die Leute anzieht, fasziniert und unterwirft. Er übernimmt die Kontrolle über den Zirkus und wird zugleich zum Sektenchef. Seine Jünger, von denen es täglich mehr gibt, lassen sich im zirkuseigenen Operationssaal nach und nach alle Extremitäten amputieren. Eine Armee der Entstellten folgt dem wandernden Rummelplatz.

Katherine Dunns wirklich bemerkenswerter Roman kehrt sämtliche moralischen und ästhetischen Prinzipien einfach um, wertet Begriffe wie "Normalität" oder "Schönheit" ab, zeigt deren problematische Komplexität, die sich hinter vordergründiger Einfachheit nur versteckt. "Normal" und "schön" sind vor diesem Hintergrund Etiketten für langweilige und bedeutungslose Menschen, die ja auch angesichts der menschgewordenen Normbrüche eingeschüchtert und unterwürfig handeln. Der Vorteil der körperlich Unnormalen wiederum besteht darin, auch keiner anderen Norm genügen zu müssen, quasi völlige Narrenfreiheit zu genießen, gar in den Augen der anderen nicht nur körperlich besonders zu sein. Dieses Prinzip zieht sich durch den Roman und beherrscht es. Das gelingt völlig zweifelsfrei und an jeder Stelle.

In einer Jetztzeithandlung, ungefähr 25 Jahre nach dem Beginn der eigentlichen Geschichte, ist Oly achtunddreißig Jahre alt, lebt in einem muffigen Appartementhaus und stellt der eigenen Tochter nach, die nicht weiß, wessen Kind sie ist. Diese Tochter ist bildschön, von einer Verlängerung der Wirbelsäule abgesehen, also einem Schwanz. Von einer mysteriösen, sehr reichen Frau wird ihr das Angebot unterbreitet, sich auf deren Kosten operieren zu lassen, praktisch völlig normal zu werden. Das muss Olympia um jeden Preis verhindern.

Katherine Dunns Roman erschien 1989 unter dem Titel "Geek Love". "Geeks"  waren auf Jahrmärkten jene Artisten, deren Nummer schlicht darin bestand, lebenden Tieren - zumeist Geflügel - die Köpfe abzubeißen. Um fehlende, jedoch deutlich entbehrlichere Körperteile geht es tatsächlich überwiegend. Vor allem aber geht es darum, wie sehr wir uns alle von Äußerlichkeiten blenden und vereinnahmen lassen, wie groß die Gefahren und verpassten Chancen sind, die mit einer so oberflächlichen Betrachtung der Menschheit einhergehen.
"Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie" ist allerdings auch stilistisch und dramaturgisch ziemlich eigenwillig, ohne jedoch hier so sehr mit Konventionen zu brechen, dass sich daraus eine mit Thema und Handlung vergleichbare konträre Ästhetik ergäbe. Das Buch liest sich zuweilen etwas spröde, springt gelegentlich von einer Episode zur nächsten, ohne das Vakuum dazwischen zu füllen. Man merkt dem Roman die siebzehn Jahre Entstehungszeit an, weil die - vermutlich umfangreichen - Streichungen und Änderungen gleichsam den Phantomschmerz amputierter Gliedmaßen hinterlassen haben. Dadurch wirkt das Buch hin und wieder sehr unspontan, fast schon zwanghaft. Die Leichtigkeit, mit der Dunn ihr originelles Sittenbild zeichnet, fehlt der Erzählung auf der dramaturgischen Seite hin und wieder. Und auch die Entscheidung, den Bericht im letzten Drittel größtenteils aus dritter Hand zu liefern, über Notizen eines Journalisten und ähnliches, konnte ich nur teilweise nachvollziehen.

Hiervon abgesehen ist das unbestreitbar ein äußerst eigenartiger und spannender Roman, ein sehr gelungenes, vereinnahmendes Experiment, das beim Lesen auf wohlige Weise intensiv gemischte Gefühle hinterlässt. Nur dieser deutsche Titel - großer Gott!

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