Frühling der Barbaren. Novelle.
Jonas Lüscher, C. H. Beck 2013

Frühling der Barbaren

Ein Kartenhaus namens Zivilisation

Der Fabrikerbe Preising dient dem eigenen Unternehmen nur noch als Aushängeschild, während sein Prokurist Prodanovic, der umtriebige Erfinder, dem die Firma ihren Erfolg im Mobilfunksegment verdankt, der eigentliche Drahtzieher und Entscheider ist. Hin und wieder jedoch muss Preising für die ungefähr fünfzehntausend Euro, die er täglich verdient, ohne viel dafür zu tun, eine Geschäftsreise antreten. Von einer dieser Geschäftsreisen, vermutlich der letzten, berichtet Preising dem namenlosen Ich-Erzähler dieser Novelle, während die beiden durch den Garten eines Sanatoriums oder einer psychiatrischen Anstalt flanieren.

Der Geschäftsmann fährt nach Tunesien, um dort Partner für eine örtliche Fabrik zu eruieren, und landet schließlich in einem luxuriösen Wellness-Resort mitten in der Wüste, wo er in eine Hochzeitsgesellschaft gerät. Britische Investmentbanker feiern die Vermählung eines der ihren, hauptsächlich aber sich selbst, wobei Geld absolut keine Rolle spielt, jedenfalls vordergründig - ohne sehr viel Geld wäre die opulente Orgie natürlich völlig unmöglich. Dann kommt es in der Nacht nach der Trauung in London zum Börsencrash, gar zum britischen Staatsbankrott, und am Morgen danach sind die coolen Banker plötzlich mittellos. Während die pfiffigeren unter ihnen, etwa die "geschmeidige" junge Jenny, sofort reagieren und profitable Alternativen prüfen, versinken die anderen im Chaos. Preising kann in letzter Minute entkommen, muss aber, zurück in Tunis, noch lernen, dass man sich der Verantwortung nicht entziehen kann, indem man Entscheidungen einfach anderen überlässt.

Lüschers Novelle thematisiert nicht nur das Treiben jener "Kinder", die mit dem Geld und damit dem Schicksal der Welt spielen, sondern das gesamte Wesen unserer "zivilisierten" Gesellschaft, die ein riesiges Kartenhaus ist, das zwar noch nicht einstürzt, wenn am Rand ein paar Elemente fallen, aber letztlich ein gewaltiges Gebäude auf fragilem Fundament darstellt - von dem man nur hoffen kann, dass es weitere Beben übersteht, obwohl es alles andere als ein schönes Gebäude ist, da es etwa kulturelle Unterschiede, gar echte Individualität kaum zulässt. Dieses falsche Leben im falschen Leben, das an Adorno denken lässt, markiert das Paradoxon, mit dem wir Wohlstandsgesellschaftler uns letztlich allesamt abgefunden haben, ohne groß darüber nachzudenken.

Lüscher bedient sich eines Stils, der veraltet, anachronistisch scheint, aber gut geeignet ist, den Zwiespalt noch stärker zu unterstreichen. Allerdings hat sich der Autor ein bisschen zu sehr der Exposition seiner Geschichte gewidmet, wodurch das vergleichsweise kurze Ende abrupt wirkt und weniger eindringlich daherkommt, als das möglich wäre. Was nichts daran ändert, dass "Frühling der Barbaren" eine vorzüglich komponierte, stilsichere und detailreiche Erzählung darüber ist, dass man, um die Hauptfigur Preising sinngemäß zu zitieren, nicht immer wieder die falschen Fragen stellen sollte, sondern endlich die richtigen.

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