3000 Euro. Roman.
Thomas Melle, Rowohlt 2014

3000 Euro

Absurdität und Ordnung

Diesem kurzen Roman, der einen seine Kürze nicht spüren lässt, kann man auf zwei sich diametral gegenüberstehende Arten begegnen: Entweder erliegt man der Versuchung, das Buch als semiauthentische Skizze zu begreifen, quasi als literaturgewordene "Scripted Reality" (was nicht mit dem gleichzusetzen ist, was fiktionale Literatur in der Regel zu leisten versucht), oder man begreift es als das, was es ist: Ein Text über die Absurdität der vermeintlich geordneten Gesellschaft.

Thomas Melle hat im Jahr 2011 mit "Sickster" einen spannenden, interessanten, aber auch schwergängigen und überverzerrten Roman vorgelegt, der sich im Mittelteil gleichsam seinen Lesern zu entziehen begann: Dem nahtlosen Übergang zwischen Wahn und Romanrealität zu folgen, stellte keine leicht zu lösende, vielleicht sogar unlösbare Aufgabe dar. Im Ergebnis war die Irritation größer als das Verständnis, was prinzipiell auch ein schöner Ansatz ist, denn die Befriedigung von Erwartungshaltungen muss nicht zum Standardrepertoire von Schriftstellern gehören, doch Melle hatte es meiner Überzeugung nach ein wenig zu weit getrieben. Ganz anders in "3000 Euro". Sprachlich und dramaturgisch zwar alles andere als simpel, zugleich jedoch weit von der sehr artifiziellen, innerlich distanzierten, etwas manirierten Konstruiertheit entfernt, die bei der "Sickster"-Lektüre zuweilen an den Rainald Goetz aus der Post-"Irre"-Ära denken ließ.

Anton hat im falschen Moment, betäubt vom permanenten Feiern und geblendet von der eigenen Genialität, einen Schritt beiseite gemacht, diesen schmalen Grat verlassen, der gemeinhin "Normalität" genannt wird, und findet sich seither im Nichtnormierten, ganz am Rand oder ein Stückchen darüber hinaus. Er ist obdachlos, abgerissen, gelähmt, fertig. Anton sammelt Pfandflaschen, lebt im Übergangsheim, streunt herum, fürchtet und ersehnt jenen Tag, an dem ein Gericht darüber entscheiden wird, ob er im Moment des Kontrollverlusts geschäftsfähig war oder nicht. Die Hürde, die Anton überwinden müsste, um zurückkehren zu können, scheint nicht sehr hoch: Ganze drei Riesen schuldet er der Deutschen Bank. Aber drei Riesen in Pfandflaschen umgerechnet, dafür müsste man schon ein paar Tage sammeln.
Denise ist auf etwas ordinäre Weise hübsch, hat ein anstrengendes Kind, das sie allein erzieht, und kassiert bei Lidl. Sie träumt davon, nach New York zu reisen, wobei es ihr weniger um die Stadt selbst, als vielmehr um die Option geht. 3000 Euro bräuchte sie, weshalb sie bei einem Pornodreh mitgemacht hat. Aber die Produzenten überweisen das Honorar nicht. Die Filme jedoch sind längst online, weshalb sich Denise permanent beobachtet fühlt und überall mimische Hinweise auf das Erkennen zu finden glaubt.

Die beiden Entwürfe begegnen sich, aber es ist keine Romanze, von der Melle erzählt.  Sondern von einer Welt, in der etwas so Vulgäres wie 3000 Euro den Unterschied zwischen Dasein und Dortsein markieren kann, in der das Mittel zum Mittel-Punkt geworden ist, in der Menschen kein Miteinander mehr veranstalten, sondern nur noch nach Deutungen in der Oberflächlichkeit suchen, dabei aber alle auszugrenzen versuchen, die das nicht tun. "3000 Euro" ist aber auch keine Anklage, kein sozialkritisches Manifest, das in der bequemen Schriftstellerstube verfasst wurde, weil Melle jederzeit darauf verzichtet, selbst die Stimme zu erheben, und sich ganz seinen Figuren hingibt. Die Härte dieses Romans wird nicht durch das Schicksal der Protagonisten markiert, durch ihre Echtheit oder das vermeintliche Fehlen derselben. Sondern durch die Erkenntnis, dass der Mikrokosmos, in dem sich Anton und Denise bewegen, Bestandteil einer Dystopie ist, die längst zur Realität geworden ist.

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