22:04. Roman.
Ben Lerner, Rowohlt
2016

22:04

Alles wird so sein, wie es jetzt ist, nur ein klein wenig anders

Die Mammutaufgabe, mit der Doc Emmett Brown und Marty McFly konfrontiert sind, als sie im ersten "Zurück in die Zukunft"-Film (1985, Regie: Robert Zemeckis) versuchen, die 1,1 Gigawatt Leistung zu generieren, die die Zeitmaschine benötigt, um Marty aus dem Jahr 1955 zurück ins Jahr 1985 zu transportieren, besteht darin, genau jenen Moment abzupassen, in dem der Blitz in die Rathausuhr von Hill Valley einschlägt - den Marty nur deshalb kennt, weil ihm kurz vor der Zeitreise ein Flugblatt mit dem Titel "Rettet die Rathausuhr" zugesteckt wurde. Über eine wilde Kabelkonstruktion und eine Art Stromabnehmer am De Lorean wird, wenn alles passt, um exakt 22:04 Uhr ("11:04 P.M." im Original) der Blitz in den Flux-Kompensator umgeleitet - und die Maschine antreiben. Wir alle wissen, dass das geklappt hat, und als Marty in seine Zukunft zurückkehrte, war alles so wie vorher - nur ein klein wenig anders.

Jener Zeitpunkt, der bei einer Studiotour durch die Kulissen von "Universal" immer noch abzulesen ist, hat Ben Lerners zweitem Roman den Titel gegeben. Diese popkulturelle und vergleichsweise massentaugliche Referenz täuscht allerdings eine Leichtigkeit vor, die bestenfalls zwischen den Zeilen entsteht. "22:04" ist ein komplexes, kompliziertes, nicht immer leicht zu lesendes Buch, wobei die Flut von Andeutungen, philosophischen Analysen, kultur- und sozialpolitischen Anmerkungen, metaphysischen Gedankengängen und zeitgeschichtlichen Betrachtungen das bisschen Handlung manchmal völlig verdrängt.

Der ich-erzählende Autor, dessen Vorname Ben nach meiner Zählung nur einmal erwähnt wird, hat seinen ersten Roman in einem kleinen Verlag veröffentlicht - und ist über Nacht zum Liebling der Kritiker geworden. Folgerichtig wird ihm eine absurde Summe als Vorschuss für das nächste Buch angeboten, das nach der aktuellen Idee von einem mäßig bekannten Schriftsteller erzählen soll, der Briefwechsel mit deutlich bekannteren Berufskollegen fälscht, um quasi vorwegnehmend das eigene Erbe aufzuwerten. Aber der Autor kommt, als es dann tatsächlich ans Schreiben geht, schnell wieder von dieser Idee ab. Im Ergebnis verfasst er das Buch, das man nunmehr lesen kann, also die Erzählung davon, wie ein Schriftsteller seinen Erstling veröffentlicht hat und sich anschließend in jener vakuumesken Situation findet, die entsteht, wenn die Füße beim Sprung in der Luft sind: Man ist abgehoben, aber noch nicht gelandet, weiß also nicht, wie die Sache ausgehen wird. Beim Start der "Challenger"-Raumfähre (1986), der übrigens auch im Roman thematisiert wird, kam es in diesem Augenblick zur Katastrophe.
Der Autor ist New Yorker, leidet vermutlich unter dem Marfan-Syndrom, einer seltenen Bindegewebserkrankung, die dazu führen könnte, dass seine Aorta platzt, und erlebt die Absurditäten, die diese Stadt zu bieten hat, als Selbstverständlichkeiten. Eine der dramaturgischen Klammern des Romans bilden zwei Unwetter, die die Großstadt in den Ausnahmezustand versetzen, obwohl eigentlich jeder weiß, dass wieder einmal nichts Katastrophales geschehen wird. Ungeachtet dessen deckt man sich mit Überlebensrationen und Taschenlampen ein, kauft die Supermärkte leer und bildet ritualisierte Notgemeinschaften; der Autor verkriecht sich bei seiner guten Freundin Alex, die übrigens versucht, ihn als Samenspender zu akquirieren, weil sie ein Kind, aber - vielleicht - keine Beziehung will. Während er über diese Frage und viele andere nachdenkt, schaut er sich via Beamer, der das Bild an die Zimmerwand projiziert,  "Zurück in die Zukunft" an - ohne Ton, um den Wetterberichten lauschen zu können. Später erleben wir ihn, wie er durch die Stadt spaziert, mit der Literaturagentin in einem Nobelrestaurant zu Tode massierte Babyoktopusse speist, und ein vierwöchiges Residenzstipendium in der Provinz im amerikanischen Südwesten absolviert. Eine sehr bemerkenswerte Teilgeschichte handelt von seiner Arbeit in einer Art Lebensmittelkooperative, der besser betuchte New Yorker angehören, um sich mit Obst und Gemüse zu versorgen, das etwas weniger giftig als das Zeug aus dem Supermarkt ist. Im Gegensatz dazu steht eine Drogenepisode während der Stipendiatszeit, die wie aus der Zeit gerissen daherkommt und ein wenig an Hunter S. Thompson erinnert.

Zeit als Phänomen und erlebter Um- oder Zustand spielt ohnehin eine große Rolle im Buch. In nicht immer nachvollziehbarer, meistens aber sehr spannender Weise setzt sich Lerner mit dieser Thematik auseinander; der Titel dieser Rezension ist ein Zitat, das mehrfach wiederholt wird.  Die Hauptfigur hadert mit diesem Phänomen, mit Ursache und Wirkung, vor allem aber der eigenen Rolle darin. Hin und wieder meint er, Zeit anfassen zu können, die Orte in ihrer zeitlichen Veränderung spüren zu können. Hinter all dem steht, wie auch hinter der ursprünglichen Idee für den Folgeroman, die Frage danach, was am Ende bleibt - und ob es sich um ein Ende handelt. Ob die temporale Linearität des Denkens von Vorteil ist oder ein Hindernis darstellt. Was all das, schlicht gesagt, bedeutet.

Manchmal musste ich während der Lektüre zum Fremdwörterbuch greifen (bzw. zu dessen aktuellem Analogon, der Siri-Suche via iPhone). Einige Sätze lesen sich wie Auszüge aus wissenschaftlichen Essays, dann wieder erzählt Lerner verblüffend leicht und nachgerade entspannt, verbindet die stark fragmentarischen Episoden zu einer Quasi-Einheit, ohne aber daraus je eine Geschichte im klassischen Sinn zu konstruieren. "22:04" ist oft spielerisch, und nicht selten verspürte ich beim Lesen leichten Neid darüber, dass man Lerner einfach hat machen lassen, was in der Buchbranche nicht eben üblich ist, es sei denn, man heißt Siri Hustvedt (mit der es übrigens tatsächlich Gemeinsamkeiten gibt). Die 320 Seiten waren jedenfalls überraschend schnell vorbei, überwiegend bedauerlicherweise. Das Nachdenken darüber ist allerdings noch nicht beendet: Alles ist wie vorher, aber ein klein wenig anders.

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ROMAN.
rororo, 28. August 2015


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