1Q84. Buch 3. Roman.
Haruki Murakami, Dumont 2011

1Q84 - 3

Tschechows Gesetz

Etwa auf Seite 500 von "Buch 3", also auf Seite 1500 des gesamten "1Q84"-Epos, lässt Murakami seine Figuren über "Tschechows Gesetz" parlieren. Jene Maßgabe des vor über hundert Jahren verstorbenen russischen Schriftstellers besagte, dass eine Waffe, die im ersten Akt eines dramatischen Werks eingeführt wird, auch irgendwann im Verlauf der Handlung abgefeuert werden muss, aus Gründen der dramaturgischen Konsistenz (weil es sonst sinnlos wäre, die Waffe überhaupt zu erwähnen). "Literatur ist heute anders", erklärt eine Murakami-Figur, die Tschechow'sche Regel verneinend, was einer Botschaft an den Leser gleichkommt. Ob das mit der Andersartigkeit der Literatur grundsätzlich stimmt, sei dahingestellt, in jedem Fall aber gilt es für dieses Buch. Denn nur ein Bruchteil der vielen Aspekte, Handlungsstränge, Rätsel und Andeutungen, die Murakami über insgesamt fast 1600 Seiten hinweg eingeführt hat, wird im Verlauf von "1Q84, Buch 3" zu einer befriedigenden Auflösung geleitet. Immerhin, der Roman verfügt über ein Finale, hinterlässt den Leser aber mit mehr offenen Fragen als mit beantworteten. Was für Murakami-Leser keinen sonderlich ungewöhnlichen Umstand darstellt: Auch bei Büchern wie "Mister Aufziehvogel" oder "Kafka am Strand" fragte man sich nach der Lektüre das eine ums andere Mal, welche Bedeutung einige Elemente hatten, möglicherweise fälschlich unterstellend, dass es überhaupt eine gab. Und obwohl die ersten beiden Bücher, in Deutschland zusammengefasst zu einem, Hoffnung machten, scheint es auch bei "1Q84" wieder so zu sein.
Leider, wie ich aus persönlicher Sicht anfügen möchte.

Die beiden Monde sind noch immer am Himmel, während Aomame und Tengo, keine 300 Meter voneinander entfernt in einem Vorort von Tokio lebend, darauf warten und hoffen, sich zu begegnen, was durch Aomames Isolation – sie versteckt sich vor ihren Häschern – und Tengos Unkenntnis von ihrer Nähe nicht gerade erleichtert wird. Zugleich befindet sich der verwachsene, unansehnliche, aber sehr  gewiefte Privatermittler Ushikawa auf der Suche nach Aomame, beauftragt von den "Vorreitern", jener Sekte, deren Anführer Aomame auftragsgemäß getötet hat, und die sich seitdem, vor allem aber seit dem Erscheinen des Fantasy-Romans "Die Puppe aus Luft", den Tengo umgeschrieben hat, in einer existentiellen Krise zu befinden scheint. "Buch 3" erzählt wechselnd aus den Perspektiven von Tengo, Aomame und Ushikawa, und nicht selten wiederholt sich dadurch, was man aus Sicht einer anderen Person bereits erfahren hatte. Das täuscht kaum darüber hinweg, dass die Handlung eher schmal ausfällt – diese Fortsetzung, die möglicherweise auch das Ende ist, handelt vom Warten. Genau das tut auch der geneigte Leser: Er wartet darauf, dass sich die beiden endlich treffen. Leider bleibt unterm Strich auch nicht viel mehr übrig. Anders gesagt: Das Warten hat sich nicht gelohnt.

Die ausdrücklich – stellvertretend durch sein Romanpersonal – erwähnte Ablehnung herkömmlicher dramaturgischer Konzepte und "Vollständigkeitszwänge" hat bei diesem ansonsten doch recht klassisch erzählten Buch die Wirkung eines langen und sehr komplizierten Rätsels, dessen Lösung man schließlich entnervt ergoogelt. Stunden-, gar tagelang hat man herumprobiert, gegrübelt, verworfen und erneut ausprobiert, um schließlich zur Erkenntnis zu gelangen, dass man schlicht zu dumm ist – oder der Rätseldesigner einen entscheidenden Fehler gemacht, also ein unlösbares Rätsel konstruiert hat. Was auch in Ordnung wäre, hätte es bisher wenigstens Spaß bereitet. Das aber gilt leider nur für die ersten beiden Teile; "Buch 3" kommt nicht nur mit einer anderen Struktur daher, sondern scheint auch sprachlich und stilistisch ziemlich auf der Bremse zu stehen. Es gibt beispielsweise eine Stelle, an der Tengo zur Einäscherung seines Vaters fährt und ein Krematorium aufsucht. Die Beschreibung des Ortes fasst der Autor in Worte, die die sprachliche Simplizität des gesamten Werkes – Murakami ist fraglos kein großer Stilist – noch in den Schatten stellen, was wirklich etwas heißen will. Und überhaupt mutet "Buch 3" seltsam linear, ermüdend, selbstreferentiell an, verstrickt sich in Wiederholungen, repetierten Behauptungen und Beobachtungen. Ja, die Zeit steht still. Natürlich geht es – in gewisser Weise – genau darum im gesamten "1Q84". Aber es gibt abseits derjenigen, die Tschechow formuliert hat, noch andere Regeln, die eben nicht ungültig sind. Eine davon lautet: Wenn etwas nicht interessant genug ist, um erzählt zu werden, dann erzähl es eben bitteschön auch nicht. Der (vorerst?) letzte Band des vielversprechend gestarteten "1Q84" scheint aber hauptsächlich aus solchen Elementen zu bestehen. Und er laviert dabei auch noch ständig am Rand zur sprachlichen Katastrophe.

Wie schade. Wie äußerst schade. Was bleibt? Der großartige Eindruck, den die ersten beiden Teile hinterließen. Und die Möglichkeit, des Rätsels Lösung zu ergoogeln.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

Landeier

Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99

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