Die besten zehn Sekunden meines Lebens. Roman.
Roger Schmelzer, KiWi
2010

Die besten zehn Sekunden meines Lebens

Besser als erwartet

Die anhaltende Welle von Romanen - echten und nur so genannten -, die aus der TV-Comedy-Szene auf den Büchermarkt schwappt, stößt meinerseits nicht nur auf Gefallen, vorsichtig ausgedrückt. So manches, was da, zwischen zwei Buchdeckel gepresst, die Bestenlisten erstürmt, bliebe erfolglos, stammte es nicht von den TV-Standuppern und ihren Gagschreibern. Unterm Strich ist das meiste davon schlicht Merchandising.

Beides gilt für dieses Buch nicht - es ist erstens (bisher) kein Bestseller und zweitens tatsächlich ein richtiger Roman. Und zwar ein überraschend guter. Ich war skeptisch, als mir ein Freund ein Exemplar überreichte - ein Freund, der von meiner Fernsehkomikerbelletristikphobie wusste -, und ich wurde angenehm überrascht.

Der fettleibige, etwas trantütige Chris verpasst mit 16 - in den frühen Achtzigern - den Moment, der sein Leben geändert hätte, wie er jedenfalls später meint. Tatsächlich stimmt diese Feststellung natürlich: Jede Entscheidung, die wir treffen, beeinflusst den Fortgang der Dinge. Darüber, wie es wäre, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, haben andere längst geschrieben, etwa Wiebke Lorenz in ihrem lesenswerten Frühwerk "Was? Wäre? Wenn?". Auch einige Filme haben das Motiv aufgegriffen. Schmelzer aber geht die Sache anders an. Er lässt seine Hauptfigur vierzig Jahre alt werden, den Leser also sage und schreibe vierundzwanzig Lebensjahre miterleben, bis der Zeitpunkt kommt, an dem wunderbarer(und unerklärter)weise alles von vorne losgeht: Chris bekommt jene zweite Chance, verhält sich anders - und steht am Ende nicht viel besser da als in Variante eins. Ohne viel vorwegzunehmen: Die vorhersehbare Botschaft lautet, dass man immer die Möglichkeit hat, sein Leben zu verändern, und dass es nur auf einen selbst ankommt. Aber das ist auch nicht der Kern des Buches. Und jene zehn Sekunden, um die es vermeintlich geht, sind auch längst nicht die besten in Chris Mackenbrocks Leben, und zwar in keinem von beiden.

"Die besten zehn Sekunden meines Lebens" ist ein Coming-of-Age-Roman, eine Liebesgeschichte, zuvorderst aber eine Studie über die Achtziger Jahre, und zwar eine weitgehend überaus gelungene. Wackersdorf, das Aufkommen der Grünen, katholische Landjugend und ökologisches Denken, Popmusik und Cliquenverhalten - Schmelzer zeichnet eine authentische Skizze jener Zeit, und er schafft es, seine Figuren dabei nicht zu karikieren. Wo andere sich auf Name- und Product-Dropping ausruhen, entsteht bei Schmelzer Atmosphäre, wodurch sich dieser Roman auf angenehme Weise vom Rubik's-Cube-Einheitsbrei abhebt. Seine Hauptfigur ist kein witzereißender Nostalgiker, sondern ein sympathischer, etwas trotteliger Typ, hin und wieder ziemlich schlau, oft hormongesteuert, und fast immer nahe am echten Leben. Situationskomik, die die Romane der Fernsehhelden sonst beherrscht, wird hier fein dosiert eingesetzt, und auch wenn sich einiges wiederholt und der Schluss - zumindest in seiner Tendenz - früh zu ahnen ist, bietet das Buch bis dahin gefällige und verblüffend stilsicher verfasste Unterhaltung auf hohem Niveau.

Okay, einige Dinge hätten nicht sein müssen, wozu beispielsweise die Karriere Mackenbrocks ausgerechnet als Fernseh-Gagschreiber gehört - dieser Teil liest sich wie die Vorwegnahme aus einer Autobiographie. Und das Buch ist möglicherweise insgesamt ein wenig zu lang geraten. Ansonsten: Überraschend gut. Und viel besser als erwartet. Einer der schöneren Texte über die Achtziger.

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