Herr Lehmann. Roman.
Sven Regener, Eichborn 2001
(auch als Hörbuch)
In den beiden Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung war Kreuzberg für viele Zugereiste und Besucher gleichbedeutend mit Berlin. Mochte der Rest der "Fronststadt" miefig, spießig, prollig bis zum Abwinken sein- auf jenem südöstlich im Schatten der Mauer gelegenen Bezirk("SO 36")konzentrierte sich die Sehnsucht nach dem freien,alternativen Leben jenseits der heimischen Provinz .Bedingt durch niedrige Mieten und den ständigen Zuzug von Studenten und Wehrdienstverweigerern entstand ein soziales Biotop fernab der Leistungsgesellschaft. Jeder konnte hier Künstler, Hausbesetzer, Kneipenwirt werden. Bands wie Ton, Steine, Scherben und Ideal besangen den Mythos, sogar ein Musical ("Linie 1")ging um die Welt, und natürlich war Kreuzberg Kulisse und Schauplatz vieler Filme und Romane.
Eigentlich wollte er, sagt Sven Regener, gar keinen Kreuzberg-Roman schreiben, auch keinen Berlin-oder Wende-Roman. Ein Wende-Roman ist es auch nicht -die Öffnung der Mauer wird am Ende nur angedeutet. Ein Kreuzberg-Roman ist es denn doch geworden. Gleich am Anfang sieht sich sein Held Frank Lehmann auf dem nächtlichen Weg nach Hause am Lausitzer Platz mit einem Hund konfrontiert, der ihn nicht vorbeilassen will. Wie er das Tier überlistet und dabei mit der Polizei aneinandergerät, das war ursprünglich Stoff für eine Kurzgeschichte. Daraus entwickelte der Autor einen ganzen Roman, in dem er seinem Protagonisten "überallhin folgte". In die Kneipe, in der er hinterm Tresen arbeitet, ins Prinzenbad, ins Urban-Krankenhaus, immer auf verschlungenen Wegen durch "seinen" Bezirk, den er nur ungern verläßt. Frank steht kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, ein problematisches Alter, wie er weiß, da man jetzt anfängt "eine Vergangenheit zu haben". Bis jetzt hatte er sich gut eingerichtet in seiner kleinen Welt zwischen Kneipe, Wohnung und Markhalle. Tiefschürfende Betrachtungen über Lebensinhalte wischt er beiseite, ihm genügt es, jeden Abend Bier auszuschenken, nicht mal Künstler ist er nebenbei wie sein Kollege und bester Freund Karl. Ein Kreuzberger Oblomow, der sich treiben läßt und ständig sich und seine Umgebung reflektiert. Störungen in diesem beschaulich-lethargischen Leben sind natürlich höchst unwillkommen, aber genau diese brechen unerwartet über Frank herein. Der Hund war nur der Anfang. Wenig später kündigen seine Eltern einen Berlinbesuch an, der Frank sogar dazu zwingt, sich zum Ku'Damm zu begeben- eine Zumutung für jeden echten Kreuzberger. Dann verliebt er sich- was ebenfalls allerhand Turbulenzen nach sich zieht. Seine Liebe verläßt ihn, sein bester Freund dreht durch, und am Ende, als er seinen dreißigsten Geburtstag mit einer Tour durch die Kneipen feiert, erreicht ihn die Nachricht der Maueröffnung, die er und seine Freunde mit einem typisch Berliner "Ach du Scheiße!" kommentieren. Frank Lehmanns Welt wird nicht mehr dieselbe sein.
Sven Regener versteht sich eigentlich mehr als Musiker und Songtexter denn als Schriftsteller (Berliner Band "Element of Crime")und kam nach eigenen Aussagen zum Schreiben "wie die Jungfrau zum Kind." Doch ihm gelingt ein durchaus charmantes Porträt eines Menschen und seines Umfeldes. Flüssig geschrieben, voll knapper, witziger Dialoge, mit feinem Sinn für tragikomische Situationen des Alltags. Erfrischend für den Leser ist, daß er umständliche Beschreibungen seiner Figuren weitgehend meidet und sie durch Rede und Handlung charakterisiert. Einen Plot, einen Spannungsbogen gibt es allerdings nicht- der Autor reiht Episoden aneinander und läßt manches offen. Vergleicht man diesen leisen Schelmenroman der Mauer-Endzeit mit einem anderen, der rund zwanzig Jahre früher erschien (und letztes Jahr neu aufgelegt wurde),nämlich Peter Paul Zahls "Die Glücklichen", erkennt man ,was sich verändert hat im "Kiez". Wurde Ende der Siebziger vor allem das politische Kreuzberg beschworen, das der Wohngemeinschaften und antiautoritär-anarchistischen Revolte mit der sozialromantischen Utopie der Einheit von "Leben,Lieben,Kämpfen", so ist in Frank Lehmanns Welt von Politik oder gar Utopien keine Rede mehr. Man hat sich gemütlich eingerichtet in einer Welt, die im Grunde genauso beschränkt ist, wie die, die man einst verließ, um in der Stadt die große Freiheit zu finden. Da müssen schon Dinge von historischer Wucht geschehen, bis Frank Lehmann zaghaft anfängt, darüber nachzudenken, ob alles im selben Trott weitergeht oder ob man sich verändern sollte. Und natürlich erst gründlich überlegen muß, was ihm lieber wäre.