Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten - Tagebücher 1933-1945

Viktor Klemperer, Aufbau Verlag, Berlin 1999

Als ich dieses aus acht Bänden bestehende, quaderförmige Textkorpus vor mir sah, schreckte mich der Gedanke an die Lektüre: So viel Zeug!
Und dann auch noch deutsche Geschichte! Drittes Reich! Tagebücher eines jüdischen Gelehrten, der überlebt hat!
Schwerer Stoff!

In einer Stunde der Langeweile - aber wann haben wir das schon? - zog ich mühsam den ersten Band hervor und begann zu lesen: Uni-Querelen anläßlich von Berufungen, politisches Gejammer eines rechten Nationalisten, Gemäkel über Bekannte, eine hochkultivierte Hypochondrie ...

Viktor Klemperer ist Romanist, kein Schriftsteller im eigentlichen Sinne, was ihn nicht daran gehindert hat, für das Verständnis der deutschen Geschichte wichtige Zeugnisse zu hinterlassen - in Gestalt seiner Tagebücher. Er war ein routinierter Tagebuchschreiber, ein hervorragender Beobachter, wehleidig, egozentrisch, penibel, er schreibt flüssig oder in Stichpunkten, aber immer präzise bis zum Äußersten.

Und ehe ich mich versah, hatte ich 50, 100, 150 Seiten gelesen, der erste Band ist durch, Deutschland versinkt vor den Augen eines Deutschnationalen immer mehr in Barbarei, und "das Volk" schweigt.
Woche für Woche oder sogar öfter werden neue Verordnungen ausgegeben, was "die Juden" und andere unliebsame Gruppen nicht mehr dürfen - natürlich "zum Wohle des deutschen Volkes".

Klemperer erleidet Restriktionen, schließlich Berufsverbot. Verwandte und Freunde wandern aus, später verschwinden sie einfach. Das neugebaute Häuschen wird konfisziert, man haust in "Judenhäusern". Die Tagebücher müssen versteckt werden. Wer sie versteckt, schwebt in Lebensgefahr. Bei alledem steht seine Eva (Nichtjüdin) mit unverbrüchlicher Treue zu ihm, lebt mit ihm im "Judenhaus", verschafft ihm den Luxus, manchmal nicht völlig verfaulte Kartoffeln essen zu müssen, sondern nur halbfaule - etwas anderes gibt es kaum. Und aus der stummen Masse dessen, was "das deutsche Volk" genannt wird, leuchten immer wieder Beispiele von alltäglichem Heroismus auf, der z.B. Klemperer das Überleben sichert. Je schlechter die Zustände sind, desto besser geht es ihm gesundheitlich - logische Folge: Kaum ist der Krieg vorbei, jammert Viktor wieder über seine Gebrechen!

Nirgends wurde mir der innere und äußere Zerfall Deutschlands von der Weimarer Republik bis 1945 deutlicher und schonungsloser vor Augen gestellt als in diesen acht Bänden. Und das Erstaunlichste daran ist, wie schnell ich dieses Konvolut vertilgt habe, und wie sehr er mir nachher fehlte, der Viktor, dieser wehleidige, alte Fuchs!

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