Das Wolfskind.
David Malouf, Wagenbach 1998 - engl.Orig. An Imaginary Life. Vintage NY 1996

Alle paar Jahre thematisiert auf diesem Planeten ein Autor das Schicksal des römischen Dichters Ovid, der im Jahre 8 n.Chr. von Kaiser Augustus nach Tomis (h. Constanca) am Schwarzen Meer verbannt wurde, wo er zehn Jahre später starb. Diese Verbannung hat zu den wildesten Spekulationen Anlaß gegeben, denn eine offizielle Begründung ist nicht überliefert, und Ovid selbst spricht in einem Briefgedicht nur von einer "Dummheit" seinerseits.
Alle Autoren, die sich mit diesem Thema befassen, flechten eine Interpretation von Ovids Hauptwerk, den Metamorphosen ein, darin unterscheiden sich auch die beiden bekanntesten Ovid-Romane der letzten Jahrzehnte nicht, Maloufs Buch und Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" (geb. Eichborn, Frankfurt 1989. DM 44,--; TB Fischer, Frankfurt 1991. DM 18,90).
Ransmayr legte den Fokus auf die Metamorphosen - immerhin war der Roman aus einem Artikel zur Interpretation derselben entstanden. Malouf verwandelt das Lebensende des Dichters in eine Metamorphose, metaphorisch für die Entstehung und (Selbst-)Begründung der Postmoderne.

Der verbannte Dichter Ovid haust in der Hütte eines Dorfhäuptlings am äußersten Rand des römischen Reiches, einem gottverlassenen Winkel. Getrennt von dem einst gewohnten Luxus muß er das Leben einfacher Bauern teilen, deren Sprache er zunächst weder versteht noch spricht; ihm ist vor allem die Möglichkeit genommen, sich in der einzigen Weise verständlich zu machen, auf die er sich versteht: die Dichtung. Zunehmend verliert er sich in Resignation, während das Land von der versteppenden Wildnis selbst und von den Bewohnern der Wildnis, räuberischen Steppenvölkern, bedroht wird.

Am Rande der Wildnis wird ein Knabe aufgegriffen, der offenbar in der Wildnis aufgewachsen ist und nichts Menschliches an sich zu haben scheint. Der Verbannte fühlt sich an einen in der Kindheit oft imaginierten Knaben erinnert und nimmt sich dieses Kindes gegen den Widerstand der übrigen Hausbewohner an, die darin etwas Böses, Dämonisches, Gefährliches sehen - das Einbrechen der Wildnis in ihre wenigstens halbwegs geordnete Welt.
Allmählich gewöhnt er ihn wenigstens an die schlichte Lebensart der Bauern, lehrt ihn die Sprache. Doch als ein Todesfall auftritt, zwingt die Hysterie die beiden, fortzugehen. Sie fliehen in die Steppe jenseits der Grenze, die eigentliche Welt des Knaben, wo sich eine finale Metamorphose an beiden vollzieht.

Einfach gesagt, versucht Malouf die Versöhnung des sattsam bekannten modernen Gegensatzpaares aus Kultur und Natur. Es handelt sich definitiv nicht um einen historischen, sondern um einen phantastischen Roman, der Versatzstücke aus der (Literatur)Geschichte benutzt, um ein Szenario zu schaffen, daß eine "innere Wirklichkeit" widerspiegelt, die Metamorphose, die sich in der Verbindung von These und Antithese zur Synthese vollzieht.

Malouf ist ein brillianter Stilist - noch deutlicher wird das im Original: Seine Sprache ist einfach und klar, und doch schillert die Entwicklung der Personen, ihre "metamorphes Wesen", immer wieder als Vorwegnahme durch. Auch in diesem Roman verwischen sich die Grenzen zwischen erzählter Realität und erzählter Fiktion, entschwinden Handlung und Personen letztendlich selbst in einer fiktiven, phantastischen Welt, in der Steppe, die die braven Bauersleute in abergläubischer Furcht von sich und ihrem wohlgeordneten Dasein fernzuhalten versuchen. Schade, daß die
Doppeldeutigkeit der Metapher eines "genius" als Schutzgeist und (dichterischem) Genie in der deutschen Übersetzung nicht recht zu tragen kommt.

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