Arnes Nachlaß.
Siegfried Lenz, Hoffmann und Campe - Hamburg 1999, dtv - München 2001.

Im Tod sieht Handelskapitän Hellmer die letzte Zuflucht für sich und seine Familie. Wie durch ein Wunder überlebt der 12-jährige Sohn Arne die Tragödie und wird von einem Freund seines Vaters, dem Besitzer einer Abwrackwerft, in dessen Familie aufgenommen. Der stille, hochbegabte Junge gewinnt die Freundschaft und die Bewunderung des ältesten Sohnes Hans, dem Erzähler, der mit ihm das Zimmer unter dem Dach teilt, während dessen etwa gleichaltrige Geschwister Lars und Wiebke ihn als linkischen Sonderling ablehnen. Arnes neues Zuhause ist ein Ort, an dem Ozeanriesen ebenso wie Kutter ihrer letzten Bestimmung zugeführt werden, und dabei gelangen Teile der Ausrüstung auch in die Hände von des Jungen, der sie oftmals einen neuen Zweck zuführt oder einfach sammelt.
Doch der innigste Wunsch des Jungen ist die Rückkehr in die Welt, was er auf vielfältige Weise zuwege zu bringen versucht; die Aufmerksamkeit der Erwachsenen gewinnt er durch seine sprachliche Begabung und außergewöhnliche schulische Leistungen. Die Anerkennung der Clique um Lars und Wiebke, die ihm als "Streber" lange versagt wird, schließlich dadurch, daß er mit seinen Ersparnissen den Löwenanteil zur Erfüllung ihres Traumes, einem eigenen Boot, leistet, obwohl er selbst nicht einmal schwimmen kann. Zugleich sehnt Arne sich nach der Ferne, zu seinem finnischen Freund, einem Seemann, der ihm hin und wieder Briefe schreibt, doch nicht mehr als ein Schatten ist. Als ein Mißgeschick Arnes dazu führt, daß das Boot der Clique schon beim Stapellauf absäuft, stiehlt sich der Junge mit seiner Schuld in den Tod, aus dessen Händen ihn nur ein Wunder gerettet hatte.
Zwei Jahre später soll Hans sichten, was einmal Arne gehört hat, mit dem er zwei Jahre lang das Zimmer teilte. Hans läßt die Gegenstände, die dem fremdgebliebenen Gast gehörten, durch seine Hände gehen, und in der Berührung erwachen Erinnerungen an Arne, spürt Hans dem kurzen zweiten Leben dieses Geretteten nach, lernt ihn von neuem kennen und erst jetzt richtig, da er sich auf ihn einläßt. Am Ende, als das, was wert erscheint, aufgehoben zu werden, vom scheinbar Wertlosen getrennt ist, betritt Lars das Zimmer, und ordnet alles wieder an den Platz, den Arne ihm einmal gegeben hat. Er, der die Tat seines Vaters vollendet, weil er sich deplaziert glaubt in der Welt, findet seinen Platz im gemeinsamen Erinnern.

Zwei Kreise schließen sich in einer leise erzählten Geschichte von großer Dichte und Eindringlichkeit; lebendige Charaktere, gebrochene Biographien bevölkern diesen Roman, dessen unprätenziöse Sprache meisterhaft ist. Die Komposition aus Personen, Handlung und Schauplatz fokussiert den Blick auf die Funktion und Bedeutung von Erinnerung. Sicherlich, ein Alterswerk, melancholisch und ein wenig resigniert, und zudem ein zeitloses, das in einem Irgendwann zwischen 1950 und 2000 angesiedelt scheint, in einer Welt, die nur in der Erinnerung existiert.

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