ROBERT MUSIL:
DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

Über 2000 Seiten stark und dennoch fragmentarisch-unfertig ist dieses Mammutwerk
des österreichischen Schriftstellers ein deutsches Pendant zu Joyce's "Ulysses"
oder Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Anders gesagt: sperrig,
gewaltig und unbequem.
Auffällig ist von Anfang an die Präzision der Beobachtung und des Hinschauens
auf eine (Gedanken-)Welt, die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts wie in
einer immer wieder neu eingestellten Zoom-Perspektive als zugleich ortlos
und beschleunigt bloßstellt. Auf dem Hintergrund der k.u.k. Monarchie Österreichs
werden in stets neuen Anläufen Bruchstücke der Moderne präsentiert, die
sich sowohl als tiefsinnige philosophische Reflexion, als auch als flüchtig
erzählte Bagatelle zu verstehen geben.
Die stets retardierte Handlung um den Protagonisten Ulrich entfaltet sich
anfangs in Form scheinbar beziehungslos nebeneinander stehender Blöcke,
die sich meist erst später ergänzen und vernetzen, um ein nicht mehr auf
einen einzigen Nenner zu bringendes Ganzes zu konstituieren. Die Zusammenhänge
sind ge- bzw. zerstört.
Der Protagonist ist natürlich nicht "ohne Eigenschaften" im Sinne von "ohne
Attribute". Doch er ist modern-ambivalent: Seine gesichtslose und typische
Erscheinung entfaltet sich in der Selbstdistanz zahlreicher mißlungener
Selbstentwürfe. Ulrich hat so viele Attribute, daß sie schon wieder aussagelos
werden. Er bleibt vage, nicht festlegbar, relativ, nicht dingfest.
Musil entwirft das Panorama einer von Widersprüchen zerrissenen Interims-Epoche
ohne Ideale und Leitfiguren (Handlungszeit: erstes Viertel des 20. Jahrhunderts).
Die Gesellschaft liegt wie auf einem Seziertisch ironisch-sarkastisch präsentiert
und wirkt eigentümlich leer.
Viele Konflikte und Handlungen breiten sich über einen stets reflektierenden
Unterbau, der nichts anderes darstellt, als die Ablösung des Mythos durch
den Logos - den vermeintlichen Thriumph der analytischen Vernunft über eine
sinnstiftende Sicht auf die Welt.
Sprachlich gerät der Roman oft sperrig: Häufig schwer durchschaubare und
komprimierte Satzstrukturen retardieren das Lesetempo und zwingen den Leser
immer wieder, seine semantischen Gewohnheiten aufzubrechen, um so die sprachlichen
und weltanschaulichen Klischees zu hinterfragen, die sich angesichts eines
sinnentleerten Weltverständnisses aufdrängen.
Das eigentlich Interessante des Buches ist sein zweiter Teil: Ein umfangreiches
Konvolut aus Kapitelentwürfen, Skizzen, fragmentarischen Notizen und Verweisen
eröffnet den Blick in die Schreibwerkstatt des Verfassers, der das Werk
zwar unfertig, nicht aber ergebnislos hinterlassen hat.
Die letzten ca. 1000 Seiten des Buches sind nicht mehr in eine chronologische
bzw. lineare Ordnung zu bringen. Möglichkeiten unterschiedlicher Fortführungen,
Alternativen und Entwürfe spiegeln das Gesamtkonzept des Romans: ein Bild
der Moderne als fragmentierter und sich selbst immer schon überholender
Ungleichzeitigkeit zu entwerfen, obwohl im Unterschied zu Joyce's "Ulysses"
nahezu "brav" und konventionell erzählt wird.
Die häufige Unterbrechung der Erzählfäden vermittelt den Eindruck der Sprunghaftigkeit
und Unstetigkeit und signalisiert, daß es letztlich egal ist, welche Perspektive
eingenommen, welche Meinung vertreten und welche Handlung verfolgt wird:
Die Unterschiede zwischen der Totalen und dem Detail werden ebenso eingeebnet,
wie die zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Relevant ist immer das, was
gerade (zufällig ?) in den Blick kommt.
Die Struktur des Textes ergibt sich nicht nach logischen oder chronologischen
Gesichtspunkten, sondern nach der "Logik der Beliebigkeit", die für das
unstete und unfestgelegte Interesse des modernen Menschen kennzeichnend
ist. Daß sich im Anschluß an eine solche Sicht auf die Welt kein Fazit ziehen
und keine Eindeutigkeit feststellen läßt, versteht sich.
Doch unter der überall brüchigen und morbiden Oberfläche der dargestellten
Beziehungen (denn Beziehungen sind auf unterschiedlichste Weise ein Schlüsselmotiv
des Buches - auch wenn es stets mißlingende oder defizitäre Beziehungen
sind) zeichnet sich jene Konstante ab, die schon Hölderlin im "Hyperion"
zu formulieren wußte: "Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar". (Der
Bezug zum "Hyperion" ist ohnehin durch die von Musil wieder aufgenommene
Figur der Diotima nicht zufällig.) Die Frage nach dem Bleibenden im Wechsel,
nach dem Sinn des Sinnlosen, nach der Priorität in der Beliebigkeit, nach
*der* Eigenschaft inmitten einer unendlichen Fülle austauschbarer Attribute
ist auch unbeantwortet eine Aussage: Daß es sich angesichts durchgängiger
existenzieller Verunsicherung und ihrer zynischen Ausflüsse nicht wirklich
und vollständig leben läßt.
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