RAINER MARIA RILKE:
MALTE LAURIDS BRIGGE
Im Stil der Großstadtprosa entwickelt der Text einen Blick auf defizientes
Leben aus der Perspektive dessen, der sich zu orientieren sucht, und fokussiert
als Tagebuchroman das nicht mehr vom Erzähler gesteuerte innere Erleben
des Protagonisten im Leitbegriff der Angst. In der Rolle des Passanten und
Touristen bleibt der Protagonist lässig und zynisch den ihm zufällig und
bruchstückhaft begegnenden Geschehnissen des Großstadtlebens gegenüber.
Eine kalte Distanz, die immer auch Selbstschutz ist, spiegelt sich in Gleichgültigkeit
gegenüber der Humanität. Das Ich will sich nicht berühren lassen, sondern
die Welt auch in ihren abstoßenden Deformationen (Aas, Kadaver etc.) so
wahrnehmen, wie sie ist, wodurch der Text zweifellos in die Nähe zu expressionistischer
Prosa gerät. Wahrnehmung setzt Wegfall der Illusionen voraus.
Das Subjekt erfährt sich indessen als fremdbestimmt: In sein Innenleben
wird eingewirkt; es ist ein die Wirklichkeit erleidendes, passives Subjekt,
dem die Stabilität einer verbindlichen Wertordnung verlorengegangen ist.
Es gibt keine geschlossene, durchlaufende Handlung, die erzählt werden könnte,
nur einen "Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte" (Rilke). Obwohl als
Roman in Prosa verfaßt, weist dieses Werk unverkennbar lyrische Elemente
auf, wie man sie von dem vornehmlich als Lyriker bekannten Rilke kennt.
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