FRIEDRICH SCHLEGEL:
LUCINDE




Das seinerzeit (1799) sehr umstrittene und wegen seines angeblichen Plädoyers für freie Liebe und Lebensgemeinschaften, sowie seines offenkundigen Eintretens für Libertinage zeitweise zensierte Romanfragment des maßgeblichen deutschen Frühromantikers ist eigentlich kein Roman nach konventionellen Maßstäben, obwohl er als solcher firmiert. Der Text entfaltet in zahlreichen Bruchstücken ganz unterschiedlicher Form und Gattung (Brief, Fantasie, philosophische Reflexion, Allegorie u.a.m.) die freie und freizügige Liebesbeziehung zwischen Julius und Lucinde.

Als Experiment einer praktischen Umsetzung der schlegelschen Literaturtheorie mag der Text weitgehend gescheitert sein; als Dokument der ungeheuer rasanten und dichten Zeit des frühromantischen Kreises in Jena bleibt er von Interesse. In seiner Anlage einer auf Zerstörung der Form zielenden Prosa ist das Buch ein durchaus modernes Buch - und damit seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus. Die Negation des Systems spiegelt sich im Verzicht auf Handlungs- und Charakterentwicklung und kann als Musterstück romantischer Ironie gelten, insofern das Dargestellte zugleich seine Reflexion und Aufhebung impliziert. Die seinerzeit kühne Zertrümmerung der traditionellen Romanform ist noch gesteigert durch unzweifelhafte autobiographische Elemente des Textes.

Der Roman darf als eines der ersten Zeugnisse der uns heute selbstverständlichen "romantischen Liebe" gelten: also eines aus dem Gefühl der Zuneigung und nicht bloßer Pflicht motivierten Zusammenlebens. Daß erst die Romantik (im Rückgriff übrigens auf christliche Vorstellungen) den Weg von einer (noch germanisch beeinflußten) rein rechtlichen Eheauffassung zu einer Ehe als Liebesgemeinschaft endgültig gebahnt hat, wird heute oft vergessen. Das in der "Lucinde" vertretene Ideal einer "romantischen Ehe" ist als Einheit von sinnlicher und geistiger Lebensgemeinschaft zu verstehen.

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