GOTTFRIED KELLER:
DIE LEUTE VON SELDWYLA
Kein Roman, sondern ein durch eine lockere Rahmenerzählung zusammengehaltender
Erzählungszyklus (nach dem Vorbild von Bocaccios "Decamerone" oder Hoffmanns
"Serapiosnsbrüder") gilt mir als Inbegriff realistischen Erzählens. Zwei
Bände mit jeweils fünf Erzählungen (deren bekannteste vielleicht "Romeo
und Julia auf dem Dorfe" und "Kleider machen Leute" sind) sind durch die
äußere Anbindung an den Erzählort verbunden.
Als (durchaus gesunde) Gegenbewegung zur Romantik hatte der Realismus die
Absicht, die Welt nicht abzubilden, wie sie sein sollte oder könnte, sondern
wie sie ist. Kellers Erzählungen (fortgesetzt in den "Zürcher Novellen")
folgen diesem Anspruch. Die Geschichten sind stets pointiert, dramatisch
kunstvoll gesteigert und nah an der Lebensrealität der Abfassungszeit. Sie
sind spannend, gelegentlich lustig und kurios, aber mehr (ihrem eigenen
Anspruch zufolge) nicht. Es gibt keinen doppelten Boden, keine Bedeutung
des Textes jenseits des Dargestellten. Geschichten also, die sich kurzweilig
und ohne den Ballast theoriegeladener Überforderung leicht und behaglich
lesen lassen. Die Symbole werden zerstört und auf ihren realen Gehalt reduziert:
Eine mit ausgebreiteten Armen im Schnee liegende Leiche ist eben keine symbolische
Kreuzigungsdarstellung, sondern ein verrecktes Stück Fleisch - mehr nicht.
Die Geschichten Kellers zeigen Menschen in Nahaufnahme: ungeschminkt, unergiebig
und trivial. Nur die Handlung und die Figurenkonstellation sind Grundlage
dessen, was der Leser als "Besonderes" vom Text erwarten darf. Dem Stoff
wird durch die Form nichts wesentlich neues hinzugefügt. Die formende Aufgabe
des Schriftstellers ist die der Mutter, die das große Stück Brot für ihr
Kind vorher in genießbare und verdauliche Häppchen zerlegt - ohne diesen
Brotstücken mehr an Gehalt einzureden, als materiell in ihnen vorhanden
ist.
So kann das Lesen dieser Erzählstücke einerseits befreien von dem stark
theoretisch aufgeladenen Schrifttum der Romantik; doch andererseits ist
es überfordert, wenn der Leser von ihm mehr verlangen sollte als nur die
Reproduktion der banalen oder gelegentlich eben auch zufälligerweise kuriosen
Alltagswirklichkeit.
Nicht nur Malerei, auch Fotografie kann Kunst sein.
bestellen
Weitere Rezensionen von Hartmut Ernst
zurück