HARTMANN VON AUE:
EREC




Zunächst ist Abstand zu nehmen von der Vorstellung, Romane müßten stets in Prosa verfaßt sein. Im MA waren sie jedenfalls in Versform präsentiert, denn der erzählerische Vortrag an den Höfen (die Texte wurden wegen der Schreib- und Leseunkundigkeit der meisten Menschen mündlich zu Gehör gebracht) wurde häufig von Musik untermalt.

Weiterhin ist natürlich eine Lektüre der ma Texte in ihrer mittelhochdeutschen Fassung zu empfehlen, in der sich etwa der Beginn des "Erec" so darstellt:

"diz was Erec fil de roi Lac,
der vrümekeit und saelden phlac,
durch den diu rede erhaben ist."

Gegenüber Texten in althochdeutscher Sprache immerhin auch von Laien problemlos lesbar. Doch es gibt auch (erträgliche) Übersetzungen ins Neuhochdeutsche.

Der aus bretonischer Tradition von Chrestien de Troyes entlehnte Stoff ist von Hartmann neu geformt und in eine klare Struktur gebracht worden. Grundlegend für die Handlung ist der sog. "doppelte Kursus": Der Held arbeitet sich zunächst zu einem relativen Höhepunkt (in diesem Fall der Heirat mit der von ihm umschwärmten Enite) vor, um daraufhin in eine selbstgefällige, passive und degenerierte Phase einzutreten (sich zu "verligen"), die vor allem durch die Vernachlässigung der standesgemäßen Pflichten gekennzeichnet ist. Am Tiefpunkt muß er wieder ausziehen, um sich und seine Würdigkeit erneut im Bestehen von Abenteuern zu beweisen, was ihm natürlich schließlich gelingt. Also: klare Plotzentrierung des hochhöfischen Romanes. Dreifach gestufte Erprobung des Helden durch Prüfungen mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad und schließlich die Erledigung des übermächtigen Endgegners lassen bereits 800 Jahre vor der Zeit das gängige Konzept vieler Computerspiele erkennen.

Aber im Detail liegt hier die Würze: So wird z.B. das Pferd der Enite (die natürlich mit ihrem Gemahl auf die Abenteuerreise geht) in vielfältigen symbolischen Bezügen beschrieben, die en nuce bereits das Ganze des Romanes enthalten und mit Hilfe aus der griechischen Mythologie entliehener Bilder spiegeln.
Die Darstellung in schematischen Typologien (etwa der Enite als Typos des Archetypos der Maria, die wiederum ein Typos des Archetypos der Eva ist) öffnet den Raum für vielfältige Assoziationen, auf deren Hintergrund das Geschehen wie eine archetypische Reise durch verschiedene Entwicklungsstadien menschlichen Lebens erlebt werden kann. Dem Text kommt (in Aristotelischer Tradition) kathartische Funktion zu. Daß der Ausgang natürlich absehbar ist (woran auch Enites Scheintod nicht viel ändert), ist im Kontext ma Romanrezeption irrelevant. Wichtig ist das Nacherleben eines Grundmusters des damals relevanten Verhaltens vor dem Hintergrund des damaligen Erwartungshorizontes.

Nichts an diesem Text ist dem Zufall überlassen. Das Schema ist eng, das Konzept ausgefeilt - dem damaligen Leser nicht spannend im Sinne von: Das hätte ich nicht erwartet. Daß es darauf nicht unbedingt ankommen muß, um dennoch einen interessanten Text zu schreiben, beweist der "Erec".

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