Letzter Wunsch. Roman.
Vladimir Vertlib, Deuticke 2003


Jüdisch-deutsche Verhältnisse

Feistinger macht mir eine Tasse Kaffee. "Mit Milch und Zucker wie immer?", fragt er.
"Nein, heute schwarz. Das ist ein jüdischer Brauch, von dem mir einmal ein Israeli erzählt hat. Wenn jemand in der Familie stirbt, trinkt man den Kaffee schwarz."
"Dann trinke ich ihn heute auch schwarz."
"Hab gar nicht gewusst, dass du auch Jude bist", sagt Hecht.
Darauf erwidert Feistinger nichts, sondern presste ein etwas säuerliches Kichern hervor.
"Das macht nichts", meine ich, "Ich habe Karl-Heinz adoptiert."
Gabriel Salzingers Vater ist gestorben. Sein letzter Wunsch, seine letzen Worte: "Auf den jüdischen Friedhof. Nach Oberpatsch. In Mutters Grab."
1939 flüchtete der Vater aus Gigricht nach Israel, lebte in einem Kibbuz, diente in der israelischen Haganah, aber kam 48 zurück nach Deutschland. Der Großvater wurde in Auschwitz ermordet. Die Großmutter ist in Israel gestorben. Die Mutter liegt auf dem Gigrichter jüdischen Friedhof. Da soll auch der Vater begraben werden.
Leider gibt es da ein Problem. Nach orthodoxem Glauben ist nur der Jude, dessen Mutter Jüdin war. Einen Übertritt zum jüdischen Glauben darf nur ein orthodoxer Rabbiner vornehmen. Gabriels Großmutter trat zwar 1933 zum jüdischen Glauben über, aber sie tat es bei einem liberalen Rabbiner. Die heutige Gigrichter Gemeinde ist orthodox, der Rabbiner ein Import aus Amerika, von einer orthodoxen Hochschule. Gabriels Vater war kein Jude, so folgern Rabbiner und Gemeindevorstand, also darf er auch nicht auf dem jüdischen Friedhof neben seiner Frau begraben werden.
Manch einer hätte eine Posse aus diesem Stoff gemacht oder ein Lehrstück über fundamentale Juden. Vertlieb schreibt daraus einen Roman, der zeigt, wie schwierig ein jüdisches Leben in Deutschland ist, für den Vater, für den die Stadt voller Erinnerungen ist, für den Sohn, der sich von dem Vater distanziert, aber mit dessen Tod doch wieder mit der Vergangenheit konfrontiert wird und auch für die Deutschen, die glauben, das sei längst Vergangenheit und vergessen und dann entdecken müssen, dass diese Vergangenheit weiterlebt, uns alle prägt. Vertlieb lamentiert nicht, weist keine moralische Schuld zu, er beschreibt Deutsche, die sich als Philosemiten geben; solche, die immer noch oder schon wieder den Antisemiten herauskehren; solche, die jeden Juden für die Politik Sharons in Palästina verantwortlich machen. Unbefangen ist das Verhältnis fast nie, zu schwer wiegt die Vergangenheit. Warum das so ist, wieso die Forderung "endlich einen Schlussstrich" zu ziehen, weder von Juden noch Deutschen erfüllt werden kann, das zeigt dieser Roman.
Aber Vertlieb hat auch Sinn für Absurdes und kann eine Geschichte erzählen. So liest sich sein Buch trotz der oft tragischen Rückblicke auf die Familiengeschichte des Ich-Erzählers leicht und häufig muss man auflachen, ebenso oft aber kommen einem die Tränen. Wer die ersten beiden, manchmal etwas schwerfälligen Kapitel gelesen hat, wird das Buch freiwillig nicht mehr aus der Hand legen. Und niemand sollte sich diesen Roman entgehen lassen, weil er glaubt, dies sei Literatur, mithin langweilig.
Für dieses Buch gibt es nur eines: Lesen! Lesen! Lesen!
Und als letztes Zitat, gleichsam als letzten Wunsch: "Der christliche Europäer würde nicht existieren, gäbe es den Juden nicht, und der Jude wäre kein Jude ohne den Goj. Ich selbst trage beide in mir, den Juden und den Goj. Wie in einem Labyrinth bin ich zwischen den Spiegeln gefangen. Egal in welche Richtung ich mich wende, stoße ich gegen Glas."

Über den Autor: Vladimir Vertlieb wurde 1966 in Leningrad geboren, seine Familie emigrierte 1971 nach Israel, später übersiedelte er nach Österreich, wo er Volkswirtschaft studierte und seit 1981 lebt. 1995 erschien sein erstes Buch (die Abschiebung), für "das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" erhielt er den Adalbert-von-Chamisso Preis.

Vladimir Vertlieb, Letzter Wunsch, Deuticke, ISBN 3-216-30678-X
Gebunden, 389 Seiten, 20 €

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