Das Walnusshaus. Roman.
Milenko Jergovic, Schöffling, Februar 2008
»Als die verrückte Manda in ihrem nächtlichen Wahnsinn mit der Hand die Scheibe in der Küchentür sie war aus dickem Milchglas eingeschlagen hatte und am Morgen in einer Lache aus Kot und Blut gefunden wurde, so bleich, als sei bereits alles Leben aus ihr gewichen, rief Diana den Notarzt. Sie konnte es nicht mehr verheimlichen, konnte vor den Leuten nicht länger verbergen, was ohnehin jeder wusste: Ihre Mutter hatte mit siebenundneunzig Jahren komplett den Verstand verloren. Aber wie: Sie fluchte fürchterlich und stieß die übelsten Drohungen aus, traf ihre Nächsten zielsicher unter der Gürtellinie und zeigte sich, wie man sich selbst in jungen Jahren nicht zeigen sollte, packte splitternackt, dürr wie ein Gespenst, ihre schlaffe Brust und schrie: He, du Hafennutte, willste Milch, soll ich deine Brut säugen?«
Mit der verrückten Manda, die den Briefträger beißt, beginnt alles und damit, dass sie im Krankenhaus von einem Arzt mit einer Überdosis eingeschläfert wird. 97 ist die Alte und hat ein ganzes Jahrhundert in Dubrovnik erlebt. Stück für Stück rollt der Autor ihr Leben auf, geht zurück und nach und nach erleben wir die Geschichte der Frau wie ihrer Heimatstadt Dubrovnik. Kroatisch ist sie, als Manda stirbt; davor belagerten serbische Tschetniks sie; jahrzehntelang gehörte sie zu Titos Jugoslawien und alle weinten, als der große Vater starb; im zweiten Weltkrieg kämpften faschistische Ustascha Truppen, serbischen Tschetniks und kommunistischen Partisanen um sie; zwischen den Kriegen herrschte das jugoslawische Königreich und als die Heldin geboren wurde, regierte der österreichische Kaiser Franz Joseph. Rückwärts erzählt der Roman die Geschichte, beginnt beim Tod und endet in der Kindheit.
Friedlich ist sie auch nicht. Die Brüder der verrückten Manda scheitern bis auf den, der sich aller Politik entzieht und als reicher Käsehändler in Italien endet. Sie selbst verliebt sich in einen Doppelgänger Rudolph Valentinos, der sie bald verlässt, heiratet einen Seemann, der, wie sich herausstellt, eine Geliebte in den USA hat und monatelang durch das umkämpfte Jugoslawien des zweiten Weltkriegs irrt. Überhaupt hat jede Figur des Romans ihre eigene Geschichte, begegnet anderen Personen, die wiederum eigene Geschichten haben, ist konfrontiert mit dem blutigen und wechselhaften Hin und Her des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Adria und Balkan, zwischen dem alten Dubrovnik, das über Jahrhunderte unabhängig war und Bosnien, das bis 1878 zum osmanischen Reich gehörte. Nur wenige Kilometer trennen beide, aber sie könnten verschiedener nicht sein.
Die Vielzahl der Figuren und Geschichten faszinieren und manchmal ermüden sie auch. Wie Gabriel Garcia Marquez fabuliert Jergovic und wie dieser verliert er sich manchmal in seinen Geschichten. So liest sich vieles atemberaubend, bei anderem fragt man sich dann aber doch, warum es eigentlich erzählt wird. Straffen hätte dem opulenten Werk durchaus gut getan.
Das Niveau des Vorgängers Buick Rivera erreicht dieses Buch nicht. Eher ist es eine Familiensaga, die vom Leser einiges an Durchhaltevermögen abverlangt, ihn allerdings auch immer wieder mit grandiosen Stellen belohnt. Nicht vergessen sollte man den Stil, Jergovic ist ein Meister der Sprache, ohne sich in Manierismen zu verlieren.
Eines allerdings hätte dem Buch gut getan: Ein Anhang mit Fakten der Geschichte. Für Kroaten mag es bekannt sein, warum Ende der Vierziger Stalin erst geliebt, dann gehasst werden musste, für deutsche Leser ist die Kenntnis des Bruchs zwischen Stalin und Tito 1948 und manches andere nicht selbstverständlich. Vor allem jüngere Leser dürften an manchen Stellen ratlos davor stehen.
Fazit: Opulente Familiensaga, stilistisch blendend formuliert, manchmal mitreißend erzählt, manchmal aber auch etwas langatmig.
Weitere Bücher des Autors:
Buick RiveraDas Walnusshaus, Milenko Jergovic, Roman, Schöffling, Februar 2008
aus dem kroatischen von Brigitte Döbert
ISBN-10: 3895613916, ISBN-13: 978-3895613913, gebunden, 616 Seiten, Euro 24,90Das Buch bei Amazon
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