Türken-Sam. Gangsterbiografie.
Cem Gülay, dtv, Oktober 2009


Türken-Sam

»Es war eine großartige Zeit. Wir waren alle Gangster, wir waren cool. Ich hatte schon mit 25 Jahren mehr Geld als alle meine erwachsenen Verwandten zusammen, ausgenommen Onkel Can natürlich.
Ich musste nirgendwo mehr in der Schlange stehen, um in einen Club zu gelangen. Nein, wir wurden durchgewunken, wir zahlten nicht mal Eintritt. Wir wurden direkt in die VIP-Lounge der angesagtesten Hamburger Clubs geführt und bekamen Champagner auf Kosten des Hauses. Alle wollten nett zu uns sein. Und das Beste daran: Wir waren in ehrenwerter Gesellschaft. Wir waren erfolgreiche Geschäftsleute unter erfolgreichen Geschäftsleuten.
Sollten wir da etwa malochen gehen wie unsere Eltern? Dreckige Jobs machen für lausiges Geld? Krummbuckelnde Kanaken sein für 1500 Euro?«

Cem Gülay beschließt nach dem Abitur, dass er Gangster wird wie sein Onkel. Nein, kein Krimineller, der alten Omas die Handtasche klaut. Er hat Stil, er hat "Good Fellas", "Scarface" und den "Paten" gesehen. Er steigt ein ins Warentermingeschäft. Nur dass die Firmen, für die er arbeitet, gar nicht erst vorhaben, an der Börse zu zocken, sondern das Geld der Kunden gleich in die eigene Tasche stecken.

Gülay schildert dieses Leben ungeschönt. Porsche (natürlich neuestes Modell); angesagte Discos, die ihn jetzt hofieren (als gesetzestreuer Türke blieb ihm der Zutritt verwehrt); allfällige Schlägereien, denn unter dem Nadelstreifenanzug lauert die Gangsterehre, die es gegen Konkurrenten zu verteidigen gilt. Niemals Schwäche zeigen, sonst fallen die Anderen über einen her. Ein eindrückliches Schilderung des Milieus, der Kunden, die ihr Schwarzgeld Leuten anvertrauen, die sie gar nicht kennen und hoffen, dass diese es nicht nur waschen, sondern obendrein verdoppeln.

Gülay schildert auch, wie er in Deutschland aufwächst. Sein Vater spricht mit ihm nur Deutsch, er gehört zu jenen Türken der ersten Generation, die hier reich werden wollen und Deutschland verehren. Er schuftet Tag und Nacht und hat fast nie Zeit für seine Kinder. Wie die Wirtschaftswunderväter nach dem Krieg, die sich ebenfalls nie Zeit für die Kinder nahmen.

Gülay selbst will deutscher werden wie die Deutschen. Fast verklärt betrachtet er die Siebziger Jahre, Edzgar Reuter und Daimler Benz und nie habe es Diffamierungen oder Benachteiligungen gegeben. Das ändert sich in den Achtzigern.

Das heimatliche Lokstedt Viertel, einst ein Viertel des deutschen Mittelstandes, verslumt. Wer von den Deutschen kann, zieht fort, die Sozialhilfeempfänger bleiben, am Spielplatz findet man Drogenbestecke. Und die ersten türkischen Gangs tauchen auf, suchen Deutsche, die sie zusammenschlagen können. Deutsche Glatzen ziehen los, um Türken zu klatschen. Gülay und seine Freunde müssen vor beiden auf der Hut sein. Deutschland, das Paradies, wird zum Horror. Gülay erlebt, wie Rassismus entsteht. Türken, die in die Hände einer deutschen Gang fallen, hassen fortan die Deutschen, umgekehrt geht es den Deutschen, die von Türken verprügelt werden. In der Schule hört er immer mehr Beleidigungen. Ein Lehrer, der früher voller Naivität Ausländer glorifizierte, erzählt ihm, er hasse sie jetzt. Sein Sohn wird von Türken drangsaliert. Die Extremisten beider Seiten spielen perfekt zusammen.

Doch Cem Gülay hält durch. Und schämt sich dafür, Türke zu sein. Gegenüber Mädchen erzählt er, er sei Halbitaliener. Die Italiener haben wenigstens etwas vollbracht, aber Türken? Und deutsche Mädchen würden sowieso nie einen Türken ansehen.

Das Abitur schafft er. Doch dann reicht es ihm. Er steigt aus, er will nicht mehr der bessere Deutsche sein.

Autobiografien sollte man mit Misstrauen begegnen. Oft redet sich da einer sein Leben schön, wir kennen das von Politikerbiografien. Tut es Gülay auch? Möglich, aber dagegen spricht, dass sein Buch nicht geglättet klingt. Allein für seinen Entschluss, Gangster zu werden, bietet er dem Leser drei Erklärungen an. Dass er zunehmend den Eindruck gewann, die Deutschen würden ihn nie akzeptieren, ist eine. Die Verlockungen des "Gangsta"-Seins die zweite. Die dritte ist sein Vater. Er, der zwar wenig mit ihm redete, hat ihn immer gefördert darin, sich hochzuarbeiten, das Gymnasium zu besuchen, zu studieren. Doch dann, als die Ehe in die Brüche geht, Gülay seine Mutter unterstützt, hört das auf. Dem Vater ist es jetzt egal, was aus dem Sohn wird.

Der Leser muss sich selbst aussuchen, welche Erklärung stimmt. Vielleicht haben alle drei dazu beigetragen.

Als Gangster hat man eine Ehre und eine Familie. Die Gruppen organisieren sich nach dem Vorbild der italienischen Mafia. Auch wenn die einzelnen Gangs nach Nationen getrennt operieren, die Gangsta Ehre vereint alle, Hier zumindest funktioniert Multi-Kulti.

Doch das dicke Ende lässt nicht auf sich warten. Der verehrte Onkel versucht ihn auszunutzen, im Zweifelsfall ist jedem der eigene Kopf wichtiger und Gülay muss erkennen, dass die Gang nicht der Familienersatz ist, für den er sie gehalten hat. Das Geld ist schneller weg, als es verdient wurde und was bleibt, ist eine galoppierende Spielsucht.

Ausgerechnet M, der Hamburger Pate redet ihm zu, auszusteigen. "Sam, schau nicht auf mich. Ich bin doof. Ich habe nichts anderes gelernt. Was glaubst du, was passieren wird? Mein Ende wird der Tod oder der Knast sein. Aber aus dir kann noch etwas Besonderes werden. In diesem Geschäft gibt es kein Happy-End."

Cem Gülay möchte andere davor bewahren, seine Fehler zu wiederholen. Gangster hat eine merkwürdige Zugkraft auf männliche Jugendliche. Aust hat einen ähnlichen Fall, diesmal von einem Deutschen, beschrieben: „Der Pirat. Die Drogenkarriere des Jan C.“.

Und in den türkischen Ghettos kocht die Wut, auch das schildert das Buch. Die wird explodieren, wenn nicht bald etwas geschieht, warnt der Autor. Die Schulen kommen nicht an diese Schüler heran. Die Kampfsportlehrer in den Budokan Clubs, die Gangster-Onkel in den Diskotheken, die Hassprediger in den Moscheen aber schon.

Auf den ersten Seiten redet Gülay vom Bürgerkrieg, der kommen werde. Später kommt er nie darauf zurück, aus gutem Grund. Dass die Ghetto brennen können, wie die Banlieus in Frankreich, wie die Schwarzenghettos in den USA, das glaube ich ihm schon. Aber Bürgerkrieg? Das ist schon sehr viel mehr und das Wort sollte man vorsichtig verwenden.

Dabei haben wir bisher Glück gehabt. Riots wie in den USA, in Frankreich haben wir bisher nicht erlebt. Dennoch muss etwas geschehen. Jugendliche müssen Chancen erhalten, geglückte Karrieren von Türken sollten viel bekannter werden. Und gegen den Hass muss man angehen und gegen die Hassprediger auf beiden Seiten. Kinder und Jugendliche in "sozialen Brennpunkten" haben es nie leicht, egal welcher Nationalität sie angehören. Clemens Meyer hat in seinem Roman „Als wir träumten“ vier deutsche Jugendliche in einem solchen Viertel geschildert. Sherman Alexie ähnliches aus amerikanischen Indianerreservaten in „Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers: Roman“. Ghettos haben rund um die Welt viel gemein. Bildung und vor allem auch: Hoffnung kann manchmal, aber längst nicht immer, diesen Teufelskreis durchbrechen.

So ist dieses Buch eine anschauliche Schilderung der kriminellen Szene und ihrer Faszination, bietet einige unerwartete Blicke in die Spekulantenszene der halbseidenen Börsianer und zeigt uns die Zerrissenheit eines Mannes, der erst ein besserer Deutscher werden wollte und dann eine Kehrtwendung machte, um Gangster zu werden. Man muss ihn nicht mögen, diesen Cem Gülay, aber man sollte ihm dankbar sein für dieses Buch.

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