Die Stasi und der Westen. Historisches Sachbuch.
Sven Felix Kellerhoff, Hoffmann und Kampe, 2010

Die Stasi und der Westen

Der 2. Juni 1967 machte gleich doppelt Geschichte. Einmal, weil der Polizist Kurras an diesem Tag einen Demonstranten erschoss, zum anderen dadurch, dass selbiger Kurras ein Informant der DDR Staatsicherheit war: der Stasi.

Kellerhoff will mit seinem Buch die Geschichte Kurras schildern, zum anderen daran erinnern, wie viele Agenten der Stasi auch im Westen aktiv waren. Dazu erzählt er die Ereignisse rund um den 2. Juni ausführlich, liefert eine Biografie des Täters Kurras und dessen Stasi-Karriere und eine Übersicht über einige andere bekannte Aktionen und Agenten der Stasi im Westen.

Im ersten Teil rund um die Ereignisse des 2. Juni beherzigt der Autor die nötige Trennung zwischen Tatsachen und Meinung, schildert auch Ereignisse, die seiner eigenen Einschätzung widersprechen. Tatsächlich schält sich heraus, dass Westberlin 1967 beileibe kein faschistisches oder präfaschistisches System war, der Senat nicht vorhatte die Studenten „auszurotten“. Allerdings sprechen die Zitate, die das Buch anführt, von extremer Obrigkeitshörigkeit und davon, dass Senat, Presse und Polizei durchaus anfänglich versuchten, die völlig unangemessenen Polizeieinsätze zu rechtfertigen und die Schuld an Ohnesorgs Tod der APO in die Schuhe zu schieben.

So forderte die Gewerkschaft der Polizei „vom Kurs der weichen Welle bei der Behandlung dieser Kriminellen abzugehen“ und auch mancher Journalist stellte sich hinter diese Forderungen. „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen“, rechtfertigte die BZ die Polizeieinsätze und die Berliner Morgenpost den tödlichen Schuss mit „Notwehr“ und forderten in Zukunft noch brutalere Einsätze.

Bald jedoch stellte sich die Wahrheit heraus. Die Versuche, Kurras rein zu waschen, scheiterten. Der Berliner Senat setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der feststellte, dass der Polizeieinsatz völlig überzogen war, der Staatsanwalt klagte Kurras wegen des Todesschusses an. Der allerdings wurde freigesprochen, kam nie in Untersuchungshaft. Von einer konzertierten Aktion der Staatsmacht gegen die Studenten kann man nach den vorliegenden Tatsachen nicht sprechen, wohl aber davon, dass große Teile der Polizei und der Presse „ihren“ Polizisten in Schutz nahmen und nehmen wollten.

Die Richter sprachen frei, die Presse lobte den Freispruch. In dubio pro reo, allerdings waren damals andere Urteile und Gerichte gegenüber Angeklagten längst nicht so nachsichtig. Fritz Teufel saß 11 Monate in Untersuchungshaft wegen eines angeblichen Steinwurfs bei der Demonstration. Die Justiz der Sechziger Jahre war ein Rechtsstaat, aber einer, der auf dem linken Auge sehr scharf sah, auf dem rechten gern mildtätig die Augen schloss.

Für eine „faschistischen“ Justiz gibt es allerdings keine Belege. Nicht nur im Kurras Prozess ermittelten Staatsanwälte, auch in zahlreichen NS Prozessen der Zeit gab es durchaus Juristen, die die Täter wegen ihrer Taten belangen wollten – oft aber ohne Erfolg, weil Gerichte sie gerne mit fadenscheinigen Ausreden laufen ließen. Einer, der diese bittere Erfahrung machen musste, war Horst Herold, der spätere BKA Chef. Der bemühte sich, Nürnberger Nazis, die an der Vernichtung der Nürnberger Juden maßgeblich beteiligt waren, hinter Schloss und Riegel zu bringen – vergeblich.

So sehe ich in Kellerhoffs detaillierten Schilderungen keinen Raum für seine Schlussfolgerungen, es habe nie einen Versuch der Verschleierung gegeben und auch seine Behauptung, die Justiz sei völlig unabhängig gewesen, lässt Zweifel aufkommen, wieweit der Autor hier nicht einem Wunschbild aufsitzt. Und dass er die Aktionen der Polizei und des Senats immer als Unvermögen, die der Studenten aber als geplante Irreführung darstellt, weckt natürlich Bedenken gegen das Buch. Seltsam mutet an, was Kellerhoff verschweigt. Dass zum Beispiel der Berliner Polizeichef Erich Duensig seine ersten Sporen bei Hitlers Partisanenbekämpfung verdiente.

Der zweite Teil schildert den Menschen Kurras, seine Karriere in Ost und West. Ganz zweifelsohne war Kurras das Musterbild des autoritätsgläubigen Deutschen, zweifellos hasste er die demonstrierenden Studenten. Nur dass er eben nicht auf der Seite der Bundesrepublik stand, sondern auf der der DDR. Geplant war der Schuss von der Stasi aber keineswegs. Und dass es ohne Kurras` Todesschuss kein 1968 in Deutschland gegeben hätte, klingt recht unwahrscheinlich. Schließlich erlebten alle westlichen Staaten ihr 68, zum Teil weit heftiger als Deutschland und selbst von den Satellitenstaaten der Sowjetunion gab es nur einen, an dem 68 vorbeiging: Die DDR.

Der dritte Teil listete einige der bekannteren Agenten der Stasi im Westen auf. Leider trennt hier der Autor nicht mehr zwischen Meinung und Tatsachen und beherzigt nicht, was er im Anhang schreibt: „Andererseits erlegt die Beschäftigung mit Zeitzeugen dem Historiker zusätzliche Lasten auf. Sie sind keineswegs objektiv.“

Dass auch die Stasi keineswegs objektiv war, zeigt das Buch am Beispiel Gerhard Löwenthals. Trotz aufwändiger Suche fanden sich nie irgendwelche Dinge, mit deren Hilfe das MfS ihm eine „Nazi-Vergangenheit“ anhängen konnte. Als Löwenthal 1987 die Leitung des ZDF Journals abgab, meldete sie dann, vermutlich als Trost, dieses Ereignis als „Erfolg“ der eigenen Bemühungen. In Wirklichkeit war Löwenthal wegen Erreichung der Altersgrenze pensioniert worden und die Stasi hatte damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Auch andere Ereignisse, die die Stasi intern als Erfolg verbuchte, klingen sehr zweifelhaft, werden aber vom Autor ungeprüft als Wahrheit übernommen. Den Slogan „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ sei der westdeutschen Linken von der DDR vermittelt worden. Den Slogan gab es allerdings seit den Zwanziger Jahren, er ließ sich herrlich skandieren und entsprach so gut den Vorstellungen vieler Studenten, dass es wohl kaum der DDR bedurfte, ihn populär zu machen.

Gegen Springer ritt die DDR in ihrem Zentralorgan „Neues Deutschland“ immer wieder heftige Angriffe. Aber hieß das, dass die Anti-Springer Kampagnen 67/68 von der DDR initiiert worden waren, wie das Buch behauptet? Der Hass der Studenten auf Springer war so groß, dass die DDR wohl eher unschuldig war. Selbst wenn Ulbricht und Springer Bruderküsse ausgetauscht hätten, an den studentischen Kampagnen hätte sich kaum etwas geändert. „Enteignet Springer“, dieses Schlagwort hätten die Studenten so oder so skandiert.

Noch ein weiteres Beispiel, wie fahrlässig Kellerhoff mit den Zeitzeugen-Dokumenten der Stasi umgeht. „Im direkten Auftrag der Stasi bewegte Porst den FDP Chef [Erich Mende], nach dem Rücktritt Konrad Adenauers als Minister für gesamtdeutsche Fragen und Vizekanzler in die neue Bundesregierung einzutreten“ heißt es im Buch. Über den „schönen Erich“, wie Mende im Volksmund genannt wurde, hieß es, er lasse sich jeden Morgen von seiner Frau mit den Worten wecken: „Aufstehen, Erich, Karriere machen!“ Ziemlich unwahrscheinlich, dass es der Nachhilfe der Stasi bedurfte, dass er ein Ministeramt übernahm. Auch die Hoffnung der DDR, er werde sich für Entspannung einsetzen, bewahrheitete sich nicht. Als Gegner der Entspannungspolitik trat Mende 1970 zur CDU über. Nicht jede Äußerung der Genossen der VEB „Horch und Späh“ sollte man unbesehen glauben, auch wenn sie so wunderbar in die Weltanschauung des Autors passen.

Generell nimmt der Autor alles als wahr an, was die Stasi so als Erfolg feierte. Obendrein ist jeder Entspannungspolitiker entweder ein bewusster oder unbewusster Agent Ostberlins. Und wenn das „Neue Deutschland“ einen Artikel über ein Thema schreibt, dann sind alle, die das gleiche Thema behandeln, von der DDR manipuliert worden. So „beweist“ der Autor seine Behauptung, die Proteste gegen die Notstandsgesetze seien von der DDR gesteuert worden, damit, dass es zahlreiche Artikel zu den Notstandsgesetzen in der DDR Presse gab. Auch nicht überzeugender als die Behauptung, die Bundesrepublik sei ein faschistischer Staat gewesen, weil zahlreiche alte Faschisten dort in Amt und Würden gesessen hätten.

Dabei wären die Geschichten der Agenten, die er vorstellt, von Porst über Barthel vom Extradienst – der diente praktischerweise gleich zwei Herren, der Stasi und dem Verfassungsschutz – bis hin zu den RAF-Connections nun wirklich wert, sie genauso sorgfältig zu schildern, wie die Kurrasgeschichte. Und die Überlegung, was wäre gewesen, wenn?, wäre in solchen Fällen bitter nötig. Was wäre gewesen, wenn Kurras Agententätigkeit dem Gericht bekannt geworden wäre? Wäre er verurteilt worden, möglicherweise sogar wegen Mordes? Hätte es eine Bewegung 2. Juni gegeben?

Doch alternative Geschichte ist unter deutschen Historikern leider schlecht angesehen. Die angelsächsischen Kollegen sehen das anders.

„Die Stasi und der Westen“ ist jedenfalls ein schillerndes Buch. Die Teile über den 2. Juni und die Person Kurras glänzen durch eine ausführliche Darlegung der Tatsachen, auch wenn manche Schlussfolgerung des Autors fragwürdig erscheinen. Der dritte Teil dagegen übernimmt Stasi Erfolgsmeldungen ungeprüft, arbeitet mit fragwürdigen Unterstellungen und trennt nicht zwischen Tatsachen und Meinungen. Er liest sich wie eine Desinformationskampagne und wäre ein gutes Beispiel, wie man Meinung manipuliert. Schließlich hat nicht nur die Stasi von solchen Methoden reichlich Gebrauch gemacht.

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