Die Schuld des Tages an die Nacht. Roman.
Yasmina Khadra, Ullstein 2010

Die Schuld des Tages an die Nacht

»Wir lebten zurückgezogen auf unserem Stückchen Land, Gespenstern gleich, die sich selbst überlassen sind, im nagenden Schweigen derer, die einander nicht viel zu sagen habe: Meine Mutter im Dunkel der Baracke über ihren Kessel gebeugt, mechanisch in einer trüben Brühe rührend, die vor allem aus Eselsmandeln bestand, Zahra, meine Schwester, drei Jahre jünger als ich, in einem vergessenen Winkel hockend, so unscheinbar, dass man ihre Existenz glatt übersah,  und ich, ein magerer und verschlossener Knabe, kaum erblüht und schon halb verwelkt, der schwer an der Last seiner zehn Jahre trug.«

Younes wächst im algerischen Hinterland auf, in den Dreissiger Jahren. Dann zieht die Familie nach Algier, dort soll alles besser werden, aber es wird schlimmer. Sie landen in einem Slum, mit Schule ist nichts, dafür gibt es Jugendbanden und Gangster.

Doch dann adoptiert der Onkel den Jungen. Der ist Apotheker, mit einer Französin verheiratet und jetzt geht Jounes auf die französische Schule. Dort gibt es nur noch einen anderen Araber, jetzt nennt ihn jeder Jonas und er passt sich an das europäische Kolonialleben in Algerien an. Die Vorurteile gegen Araber überhört er.

Später ziehen sie nach Rio Salado, einem kleinen Ort, in dem fast nur Franzosen wohnen. Die Araber sind Bedienstete und leben außerhalb und Hüttenquartieren. Rio atmet die Luft des kolonialen Algerien, Jonas passt sich an. Er findet Aufnahme in eine Clique von Algerienfranzosen. Alles scheint friedlich, doch die Ruhe trügt. Denn der Onkel ist Intellektueller, er interessiert sich für algerische Geschichte und die algerische Unabhängigkeitsbewegung. So etwas sieht die französische Kolonialverwaltung nicht gerne und der Onkel macht Bekanntschaft mit der Polizei.

Auch sonst gärt es unter der Oberfläche, an der alles friedlich, mediteran und glücklich aussieht. Die Araber wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein, die Algerienfranzosen fühlen sich als einheimische Elite, deren Heimat Algerien ist. Haben nicht schon ihre Urgroßeltern hier gelebt? Bald bricht der Unabhängigkeitskrieg aus, kämpft jeder gegen jeden und Jonas steht zwischen den Stühlen.

Khadra hat wieder einen Roman über Algerien geschrieben, diesmal über das koloniale Algerien und den Unabhängigkeitskrieg. Erstaunlich, wie gut er die französische Kolonialatmosphäre schildern kann, das Flair von Camus, von französischer Lebensart, den Leser in diese Welt versetzt. Auch wie liebevoll er dies tut, nur langsam erahnt der Leser, was unter der Decke brodelt.

Sein Protagonist Jonas alias Younes steht zwischen den Fronten und kann sich für keine entscheiden. Beide Seiten werden zunehmend brutaler, Pardon wird keins mehr gewährt und schließlich endet alles damit, dass die Algerienfranzosen gehen müssen und Algerien unabhängig wird.

Ein poetisches, faszinierendes Buch, das den Leser lange nicht mehr loslässt. Khadra war immer schon ein Autor, der ebenso liebevoll wie auch schonungslos ehrlich seine Heimat porträtiert hat. Hier hat er ein Meisterwerk vorgelegt, Sprache, Geschichte, Personen bilden eine Einheit, wie der Leser sie nur selten geboten bekommt. Und das Buch bringt uns Algerien und seine wechselvolle Geschichte näher. Dazu eine Liebesgeschichte, genauso vergeblich wie die des kolonialen Algerien, zwei Königskinder, die zusammen nicht kommen können - und doch hebt er sich einen ganz besonderen Schluss für beide auf und auch für die anderen Personen seines Romans.

Kein Zweifel, dass Khadra einer der ganz großen Erzähler der Welt ist.

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