Später Schnee. Roman.
Martin Gülich, Schöffling, August 2006
"Ich blieb auf der Bank sitzen, bis sich die Dunkelheit über den Konradsplatz gelegt hatte. Ein Weihnachtsmann raste mit einem Motorroller über den Platz, die Luft roch nach Schnee. Morgen früh, hatte der Wetterbericht versprochen, würden die Straßen der Stadt weiß gezuckert sein. Die Stimme des Radiosprechers klang, als verkündete er den Beginn des Paradieses, und in der Tat wünschte ich mir im selben Moment, da ich von meiner Bank aufstand, es möge sofort und auf der Stelle beginnen zu schneien."
Der Ich-Erzähler führt ein ruhiges Leben. Eine Erbschaft sichert ihn finanziell ab, er hat sich genau ausgerechnet, wie viel Geld er im Monat ausgeben darf, damit es bis zu seinem vermutlichen Lebensende reicht. Aufregungen geht er aus dem Wege. Und schon ein Kegelabend bringt manchmal zu viel Aufregung in sein Leben.
Er ist Beobachter, nicht Akteur. Und er spinnt um seine Existenz Geschichten. So erfindet er einen Leberkrebs, noch vier Wochen, dann sei alles vorbei und er unter der Erde. Geschichten helfen, um Problemen aus dem Wege zu gehen, um Leute zu ärgern, die er nicht mag. Vielleicht auch, um den eigenen Geschichten aus dem Weg zu gehen?
Der Kegelverein organisiert ein Abschiedskegeln. Er geht nicht hin, die Kegelbrüder sind beleidigt. Der Kegelbruder Hartmann, angeblich aufgrund einer Gasexplosion obdachlos, zieht bei ihm ein. Er hat nicht den Mut, nicht die Energie, ihn hinauszuwerfen.
Und dann trifft er Annegret. Sie schlägt ihn in Bann, diese aristokratische Mittvierzigerin. Aber könnte eine solche Frau ihn wollen? Er ist nicht aristokratisch und so traut er sich nicht, sie zu fragen, als sie geht, ob er sie nach Hause bringen darf. Frauen, das hat er längst verlernt. Aber Annegret geht ihm nicht mehr aus dem Sinn. Als er sie wiedertrifft, regen sich plötzlich längst tot geglaubte Wünsche in ihm, Stück für Stück zerbricht seine Beobachterposition, er hat Angst vor ihr, vor sich selbst, er wird sich blamieren, und dennoch ...
Martin Gülich hat wieder einen Roman um einen Sonderling geschrieben. Ironisch, aber auch liebevoll schildert er ihn, seine kleine Welt, die Figuren um ihn herum; mit einem scharfen Blick für die Skurrilitäten und Absurditäten des Alltags. Langsam beginnt der Roman, lässt dem Leser Zeit, den Ich-Erzähler und sein Leben kennen zu lernen; fasziniert durch eine geschliffene Sprache, durch konsequente Erzählstimme.
Und dann lässt der Autor die Welt, in der sich sein Held so häuslich eingerichtet hat, zerbrechen, wirft ihn ins Unbekannte.
Dennoch hat dieser Roman nicht die Kraft seines Vorgängers "Die Umarmung". Das liegt einmal daran, dass der Held hier blasser wirkt, die Geschichte nicht mit der Konsequenz zu Ende erzählt wird, wie in der Umarmung. Weil der Ich-Erzähler diesmal nicht so durch seine Obsession besessen ist, ich als Leser eher das Gefühl hatte, es ist kein Sturm, der sein Leben durcheinanderwirbelt, nur ein Wind, der die Gardinen flattern lässt, aber keine Folgen hat? Wer noch keinen Martin Gülich gelesen hat - ein Versäumnis! - sollte wohl eher mit "Die Umarmung" beginnen.
Über den Autor: Martin Gülich, Jahrgang 1963, studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Nach verschiedenen Anstellungen als Planungs- und Softwareingenieur leitete er bis Juli 2005 das Literaturforum Südwest und das Literaturbüro Freiburg.
Heute lebt er in Freiburg/Breisgau als freier Schriftsteller.Später Schnee, Martin Gülich, Roman, Schöffling, August 2006
ISBN-10: 3895613045, ISBN-13: 3-89561-304-5, gebunden, 157 Seiten, Euro 17,90
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