Schloss aus Glas. Roman.
Jeanette Walls, Hoffmann und Campe 2005


Eine bizarre Familie

"Ich nestelte an meiner Perlenkette und fragte mich, ob ich nicht doch zu elegant für die Party angezogen war, als ich aus dem Taxifenster schaute und Mom sah, die gerade einen Mülleimer durchwühlte. [...]
Es war Monate her, dass ich Mom gesehen hatte, und als sie aufblickte, überkam mich Panik, die Furcht, dass sie mich entdecken und meinen Namen rufen würde und dass jemand, der zu derselben Party unterwegs war, uns zusammen sehen könnte, dass Mom sich vorstellen würde und mein Geheimnis kein Geheimnis mehr wäre."

Jeanette Walls wächst als Kind einer bizarren Familie in den USA auf. Die Eltern sind "Hobos", Menschen, die von einem Ort zum nächsten ziehen, oft über Nacht. Der Vater arbeitet nur gelegentlich und behält einen Job nie lange, obwohl er intelligent und pfiffig, leider aber auch unleidlich und versoffen ist. Die Mutter ist ausgebildete Lehrerin, geriert sich aber als Malerin und Schriftstellerin. Auch sie arbeitet nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.

Oft flieht die ganze Familie bei Nacht und Nebel aus einem Ort. "Vor dem FBI" erzählt der Vater den Kindern, doch die begreifen bald, dass es nicht das FBI ist, das ihren Vater verfolgt, sondern die Gläubiger.

Zunächst scheint den drei Kindern dieses Leben abenteuerlich und spannend. Schließlich gehen sie mit dem Vater auf Dämonenjagd und er nimmt sie in klare Wüstennacht hinaus, damit sie sich einen Stern auswählen - sein Weihnachtsgeschenk für sie. Immer neue Geschichten fallen dem Vater ein, er ist ein Träumer und Zauberer. Seinen Kindern bringt er früh Lesen und Schreiben bei, aber nicht nur das: Während andere Kinder sich noch mit dem traditionellen Einmaleins plagen, lernen sie mit Binärzahlen zu rechnen. Sie haben kein Geld, und immer mal wieder hungern sie, aber an intellektueller Nahrung ist zunächst kein Mangel. Immer gibt es Bücher und im Wohnzimmer liegt ein Wörterbuch, in dem sie nachschlagen, was sie nicht verstehen. Auf der Schule kommen sie in Begabtengruppen.

Dann kommt die Mutter auf die verhängnisvolle Idee, nach Westvirginia zu den Eltern des Vaters zu ziehen. Der Vater hat die kleinen Bergbaustadt Welch mit siebzehn verlassen und keinen Kontakt mehr mit den Eltern. Jetzt stellt sich heraus, warum: Beide Großeltern sind Säufer und der Onkel ebenfalls. Der Vater säuft jetzt extensiv, sie haben oft nichts zu essen, suchen sich Essensreste aus dem Müll. Onkel und Großmutter wollen sich an ihnen sexuell vergreifen. Der Vater klaut ihnen ihr selbstverdientes Geld. Der Alkohol macht aus dem einstigen Träumer und Zauberer ein Scheusal. Die Familie haust in einer Bruchbude ohne Heizung, fließendem Wasser und Strom, dafür regnet es durchs Dach. Schließlich fliehen die Kinder eins nach dem anderen nach New York, und es gelingt ihnen dort, ein eigenes Leben zu führen.

Die Autorin erzählt eine Geschichte, die weit weg von allem liegt, was Leser gewöhnt sind. Die Faszination der Eltern in den guten Tagen wird deutlich, aber auch der stetige Absturz und der Hass auf sie, die sich immer mehr ihren Aufgaben entziehen, immer weniger für sie sorgen, immer bösartiger werden.

Dort kann die Autorin sogar eine Collegeausbildung absolvieren. Einmal fragt eine Dozentin ihre Studenten, ob sie der Meinung seien, dass Obdachlosikeit die Folge von Drogenmissbrauch und fehlgeleiteten Sozialleistungen sei, oder ob sie daher rühre, dass Sozialleistungen gekürzt würden und es dem Staat nicht gelinge, den Mittellosen berufliche Perspektiven zu geben.

"Manchmal trifft weder das eine noch das andere zu", antwortet Jeanette Walls. "Ich denke, dass die Menschen manchmal das Leben bekommen, das sie haben wollen." Die Dozentin bebt vor Entrüstung und beschimpft ihre Studentin: "Was wissen Sie denn von den Nöten und Hürden, mit denen die Unterschicht zu kämpfen hat?" Jeanette wagt es nicht zu widersprechen, denn sie will keinem von ihrer Kindheit erzählen, niemand soll wissen, welcher Art ihre Eltern waren.

Erst sehr viel später, als sie längst eine beruflich erfolgreiche Kolumnistin ist, wagt sie die Wahrheit zu sagen. Und schreibt dieses Buch. Jeanette Walls erzählt ihre Geschichte unaufdringlich und doch so spannend, dass der Leser das Buch nicht mehr weglegen kann.

Übrigens werden die Eltern in manchen deutschen Rezensionen als "Hippies" bezeichnet. Doch das ist falsch, sie beziehen sich weder auf die Vorstellungen und Ideale der Flower-Power Bewegung, noch kommen deren Begriffe in dem Buch vor. Sie sind vielmehr Hobos, Landstreicher, wie es sie in den USA schon immer gegeben hat und geben wird.

Fazit: Unbedingt lesenswertes Buch, das zeigt, wie viel unterschiedliche Menschen es gibt, und dass gängigen Vorstellung über Obdachlose, Unterschicht und auch über die USA nicht immer zutreffen. Eine der besten und wichtigsten Neuerscheinungen dieses Jahr!

Über die Autorin: Jeannette Walls lebt und arbeitet als Journalistin in New York und Long Island. Sie schrieb Gesellschaftskolumnen für E! Channel und das New Yorker Magazin Intelligencer. Zur Zeit moderiert sie dreimal wöchentlich eine Live-Sendung im Morgenfernsehen bei MSNBC. Sie hat in mehreren Fällen die Doppelmoral bekannter Personen des öffentlichen Lebens entlarvt, so die von Matt Drudge, der sich selbst als ultrarechter, ultramoralischer Mann darstellte - und im privaten Leben homosexuell ist.

Schloss aus Glas, Jeanette Walls, Roman, 2005, Hoffmann und Campe
Originaltitel: The Glass Castle, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN 3-455-08004-9, gebunden, 384 Seiten, Euro 19,95

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