Roter Mohn. Roman.
Alai, Unionsverlag 2004


Bestseller aus Tibet

"Es war ein schneebedeckter Morgen. Ich lag im Bett und lauschte dem Singen wilder Drosseln vor dem Fenster, während Mutter sich in einer kupfernen Schale wusch. Sie tauchte ihre Hellen, schlanken Hände in die warme Kuhmilch und atmete tief durch, als strengte es sie an, sich die Haut zu verschönern. Dann schnippte sie mit den Fingern gegen den Rand der Schüssel, so dass die Milch sich kräuselte und das Echo im Raum widerhallte."

"Den Idiot" nennen alle den zweiten Sohnes des tibetischen Fürsten Maichi, keiner mag ihn ernst nehmen. Wir schreiben den Anfang des zwanzigsten Jahrhundert, in Peking wurde gerade die Republik ausgerufen, Lhasa ist fern. Und in den kleinen Fürstentümern zwischen Lhasa und China herrschen immer noch unbeschränkt Feudalfürsten. Ja, sie sind mächtiger als je, weil China zerfällt und außerdem die Japaner einmarschieren. Zudem haben die Fürsten den roten Mohn mit seinem betörenden Duft und dem daraus gewonnenen Opium entdeckt, das wird sie reich machen, hoffen sie. Nur der Idiot sieht, dass die Welt sich verändert und es bald keine Fürsten mehr geben wird, weder chinesische noch tibetische.

Tibet ist in, aber wer kennt schon tibetische Literatur? "Roter Mohn" führt den Leser in eine versunkene Welt, die so gar nicht dem entspricht, was mancher von Tibet erwartet, mit Intrigen zwischen Lamas, Fehden zwischen benachbarten Fürsten und bald werden die Chinesen wieder die Oberhoheit in den abgeschiedenen Tälern erringen. Doch dann sind es keine kaiserlichen Beamten mehr, sondern "bunte" Chinesen, "weiße" und "rote", die die Tibeter für ihren Bürgerkrieg einsetzen. Der Schluss des Buches wirkt phantastisch, auch etwas nebulös, kein Wunder, denn das ist ein heikles Thema im heutigen China.

Deshalb traute sich lange kein chinesischer Verlag dieses Buch zu drucken, doch als sich einer fand, wurde es in China ein Bestseller.

Für jeden, der einmal in eine fremde Welt eintauchen möchte, einmal ein Buch lesen möchte, das nicht nach dem üblichen Romanschemata europäischer Historienschinken gestrickt ist, ein Toptipp.

Über den Autor: Alai wurde 1959 in Nord Sichuan geboren, schreibt seit den Achtzigern Gedichte und Erzählungen und war Chefredakteur von Chinas größtem Science Fiction Magazin. "Roter Mohn" ist sein erster Roman. Er erhielt 2000 den wichtigesten chinesischen Literaturpreis Mao-Dun.

Alai, Roter Mohn, Unionsverlag, ISBN 3-293-00327-3, Februar 2004
Gebunden, 447 Seiten, 22,90 €, aus dem Chinesischen von Karin Hasselblatt

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