Die große Revolte. Roman-Trilogie.
Nanni Balestrini, Assoziation A, Februar 2008


revolte

Balestrini ist hierzulande fast unbekannt. Doch in Spanien, Italien, Lateinamerika gilt er vielen Autoren als großes Vorbild.

Er experimentiert mit Sprache. In aller Regel bringt das unlesbare Texte hervor, die in literaturwissenschaftlichen Seminaren gelobt, aber selten gelesen werden.

Ein Roman ohne jede Satzzeichen? Ohne Punkt, Komma, Ausrufungszeichen? Immerhin, Absätze gibt es. Wer will, wer kann so etwas lesen? Das zumindest dachte ich, als ich eine Seite der "Die Unsichtbaren" überflog. Und das Buch wieder weglegen wollte.

Doch dann habe ich weitergelesen. Und binnen kurzem zog mich der Autor in seine Geschichte hinein. Wie eine atemlose, mündliche Erzählung wirkt dieser Text und lässt die Siebziger Jahre in Italien vor meinem Augen entstehen. Jugendliche, die eigene selbstverwaltete Zentren gründen, Häuser besetzen, sich mit den Carabiniere prügeln und immer lauert die Gewalt im Hintergrund. Wir sind in Italien, in den Siebzigern gab es Putschpläne, die Loge P2 wollte in Italien die Demokratie abschaffen, eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus wie wenigstens ansatzweise in Deutschland hatte es fast gar nicht gegeben.

Und die Jugendlichen verstanden sich als eine große Horde, die gegen die klassische Politik, egal ob Christdemokraten oder Kommunisten, aufstand. Bald gab es auch dort Gruppen, die den bewaffneten Kampf führen wollten, an die italienischen Partisanen anknüpfen wollten. Anders als die RAF in Deutschland waren die Befürchtungen vor einem faschistischen Staat in Italien nicht unbegründet. Und anders als in Deutschland hatte der bewaffnete Kampf in Italien eine große Basis.

Balestrini schildert uns diese Zeit durch die Augen eines Jugendlichen, der sich als Mitglied der Bewegung fühlt, die Zeit lebendig werden lässt. Die Brutalität der Polizei, die offizielle Politik, die in den Jugendlichen nur eine Horde Barbaren sah, die es zu zerschlagen galt, eine Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten, die alles, was sich in Deutschland zur gleichen Zeit zwischen RAF und Polizei abspielte, in den Schatten stellte.

"Wir wollen alles" ist der zweite Roman dieses Sammelbandes. Formal sehr viel traditioneller geschrieben, mit Satzzeichen, die Ich-Erzählung eines jungen Süditalieners, der sich nicht mit der Tradition und der Armut des Mezzogiornos abfinden will, in die Fabrik kommt, Geld für eine Lambretta verdienen will, die Arbeit hasst und in die autonomen, von Gewerkschaften und KPI unabhängigen Streiks Ende der Sechziger gerät. Auch hier kann Balestrini die Stimmung einfangen, die Jungen, die anders leben möchten als ihre Eltern, nicht mehr traditionelle Facharbeiter mit KPI Ausweis und Arbeiterstolz sein wollen.

Dennoch ist dieser Roman schwächer als "Die Unsichtbaren". Das liegt an dem Ich-Erzähler und dem Aufbau des Stoffes. Erst schildert der Autor den Stenz, der Geld verdienen will, es aber so schnell ausgibt, wie er es verdient hat. Dann, anläßlich der Streiks, füllt sich der Roman mit politischen Erklärungen, die so gar nicht zu dem Ich-Erzähler passen wollen. Und schließlich die Streiks und Strassenkämpfe in Turin, die zwar immer noch in Ich-Perspektive geschildert werden, aber offensichtlich spricht zu uns nicht mehr der Erzähler aus dem Anfang der Geschichte.

Der dritte Roman, "Der Verleger", porträtiert den Tod des Verlegers Feltrinelli und welche Auswirkungen er auf die Linke in Italien hatte. Feltrinelli war eine schillernde Gestalt, Sohn aus reichster Mailänder Familie, baute einen erfolgreichen linken Verlag auf, brachte erstmals Pasternaks "Doktor Schiwago" im Westen heraus, ein Mann mit Gespür fürs Geschäft und die Literatur, der gleichzeitig ein Held der Arbeiter und Linken sein wollte und starb, als er einen Strommast sprengen wollte.

Dieser Roman erzählt von verschiedenen Personen, die Feltrinellis Tod erfahren, springt gleichzeitig in die Metaebene, auf der der Autor über seinen Roman räsonniert, welche Personen dort vorkommen sollte, was sie tun, sagen, denken würden. Manchmal verwirrend, manchmal spannend, aber wohl nur für den interessant, der sich für diese spezielle Geschichte dieses Verlegers im Italien der Siebziger Jahre interessiert.

Jedenfalls ein Sammelband, der zeigt, wie Sprachexperimente und Inhalt miteinander verknüpft werden können, dass experimentelle Texte nicht notwendig langweilig sein müssen.

Autorenhomepage

Die große Revolte, Roman-Trilogie, Nanni Balestrini, Assoziation A, Februar 2008
ISBN-13: 978-3-935936-75-0, gebunden, 440 Seiten, Euro 24

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