Die erregte Republik. Sachbuch.
Thymian Bussemer, Klett-Cotta 2011
»An der Milleniumswende im Jahr 2000, 55 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, hätte niemand im In- oder Ausland Zweifel daran gehabt, dass die deutsche Demokratie eine der stabilsten der Welt ist.
Elf Jahre später hat sich dieses Bild verändert. Natürlich haben die demokratischen Institutionen des Landes nach wie vor Bestand. Doch die Zweifel an ihrer Verlässlichkeit bei der Bearbeitung der anstehenden Probleme, an ihrer Legitimität angesichts stetig schwindender Wahlbeteiligungen und an ihrem Einfluss angesichts eines globalisierten Kapitalismus sind nicht mehr zu überhören. Das beginnt mit einer schwindenden Akzeptanz der Parteien.
[...]
Nur 37 Prozent fanden, die Politiker machten ihre Arbeit im Großen und Ganzen gut, 56 Prozent waren gegenteiliger Ansicht. [...] Zu Beginn der 1990er Jahre waren noch 42 Prozent der Deutschen überzeugt, dass sich Abgeordnete primär an den Interessen der Bevölkerungund nicht an eigenen Vorteilen oder Lobbyforderungen orientieren. 2001 glaubten das noch 26 Prozent, heute sind es 15 Prozent.«Deutschland verändert sich. Die Diskussionen werden hektischer, emotionaler, die Zeitungen, auch die, die sich „Qualitätsjournalismus“ auf die Fahnen geschrieben haben, fahren immer mehr Kampagnen, wollen, obwohl nicht gewählt, den Gang der Politik bestimmen. Die Politiker reagieren nur noch auf immer neue, immer schrillere Forderungen in den Medien, statt selbst Politik zu bestimmen. Moralische Empörung ist in, doch Probleme will niemand diskutieren, das bringt keine Schlagzeilen und folglich keine Auflagen. So beginnt Thymian Bussemer sein Buch.
Und fährt mit einem intensiven Blick auf das Zusammenspiel zwischen professionellen Medien und Politik heute fort. Das war noch nie unproblematisch, hat sich aber in den letzten zehn, zwanzig Jahren deutlich zugunsten der Medien verändert, die immer mehr die Themen bestimmen, während die gewählte Politik dem nur noch hinterher hechelt. Vor allem werden die Intervalle immer kürzer, in denen neue Probleme auf den Tisch gelegt werden, die natürlich sofort gelöst werden sollen, zumindest fordern das die Medien heutzutage von Spiegel über FAZ bis hin zur Bildzeitung unisono. Natürlich geht das nicht, vernünftige Lösungen brauchen Zeit für die Diskussion, weshalb die Politik darauf mit Statements reagiert, die möglichst allgemein und nichtssagend bleiben sollen, damit ihr die Medien daraus nicht neue Stricke drehen. Damit werden die hochgepushten Probleme zwar nicht nicht gelöst, aber was macht das schon? Nächste Woche spricht sowieso niemand mehr darüber. Eine Kakophonie von Erregtheit, die schon längst aufgegeben hat, Themen zu diskutieren, innezuhalten, nachzudenken.
So die Analyse des Buches. Und tatsächlich ist die Analyse der Medien und deren immer größeren Macht auf die Politik das große Plus dieses Buches. Kenntnisreich kann Bussemer diese Veränderungen schildern, bringt viele Zitate und manches, was dem Leser unbekannt sein dürfte.
Dass es diesen Kampagnenjournalismus gibt, den heute auch angesehene Medien betreiben, daran besteht kein Zweifel. Karl-Theodor zu Guttenberg, der ebenso plötzlich hochgelobt wurde, wie er nach der Entdeckung seines Plagiats wieder fallen gelassen wurde, Helene Hegemann mit Axolotl Roadkill war die Vorläuferin, auch sie erst hochgelobt, bis sie ebenfalls des Plagiats überführt wurde.
Allerdings versteht der Autor unter Medien immer als klassische Medien. FAZ, Spiegel, Bildzeitung, die verschiedenen Fernseh- und Hörfunksender. Dass diese mittlerweile das gleiche Problem haben, wie die Politik, nämlich, dass immer weniger Bürger ihr vertrauen, das entgeht dem Autor. Dabei ist das ein Grund für die immer erregteren Medienkampagnen, mit denen sich die Medienleute auch sich auch selbst ihre Bedeutung versichern wollen. Gerade am Beispiel „Feuilleton“ zeigt sich aber, dass diese Bedeutung immer mehr abnimmt.
Internet kommt bei ihm höchstens Mal in einem Nebensatz vor. Dass heute aber oft schon wenige Minuten nach dem Ereignis die Neuigkeiten im Netz stehen oder stehen können, dürfte der zweite Grund sein, dass die Medien immer hektischer reagieren. Jeder will der erste sein, wer zu spät kommt, den liest niemand mehr. Gleichzeitig lässt sich vieles – und vor allem auch vieles fundiertes – im Internet nachlesen, ein zusätzlicher Druck auf die klassischen Medien.
Das Zusammenspiel zwischen Politik und Medien, dessen Tempo und Inhalt immer mehr die Medien bestimmen und die Politikverdrossenheit, die daraus folgt, bildet den Hauptteil des Buches. Daneben führt er die Politikverdrossenheit auch auf den Neoliberalismus zurück: Jeder ist sich selbst der Nächste, wer sich für das Allgemeinwesen einsetzt, ohne dafür gezahlt zu werden, ist ein verachtenswerter „Gutmensch“. Hier hat er sicher recht, die Ohne-Mich Haltung des letzten Jahrzehnts ist sicher auch ein Grund für den Siegeszug neoliberaler Vorstellungen.
Allerdings schlägt er auch alle Bürgerbewegungen diesem Egoismus zu. Wer sich für oder gegen etwas engagiert, der Bürger, der sich in die Politik einmischt, ist auf jeden Fall ein Egoist und folglich gefährlich für das Gemeinwesen. Nun kann man für oder gegen Bürgeraktionen sein, für oder gegen Stuttgart 21 oder andere Projekte. Nur unterscheidet sich diese Haltung durchaus von der des Bürgeregoisten, der sich zurücklehnt und sich weigert, Zeit für das Gemeinwesen zu verschwenden, die er nutz- und geldbringender für die eigenen Kasse und Karriere verwenden könnte.
Wohl kaum einer stellt sich aus Egoismus Wasserwerfern entgegen oder schlägt sich mit der Polizei herum. Wikipedia wird nicht deshalb von Amateuren betrieben, weil diese Egoisten sind. Hier wirft Bussemer zwei Haltungen in einen Topf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nicht nur hier merkt man, dass die solide Fachkenntnis den Autor verlässt, sobald er sich außerhalb seines Spezialgebietes bewegt, dem Zusammenspiel von Politik und professionellen Medien.
Das, was laut Klappentext eigentlich den Hauptteil bilden sollte, nämlich die Verteidigung der repräsentativen Demokratie, findet sich nur am Schluss auf einigen wenigen Seiten. Der Autor begründet hier, warum er nicht glaubt, dass vermehrte Bürgerentscheide dieses Problem nicht lösen könne, dies könne nur die repräsentative Demokratie, in der Entscheidungen und vor allem Diskussionen erst einmal delegiert werden, damit in Ruhe das Für und Wider diskutiert werden könne. Doch zu dieser Frage trägt das Buch nur wenig bei, Bussemer beschränkt sich hier auf einige bekannte Allgemeinplätze. Eine Verteidigung der repräsentativen Demokratie ist es mitnichten.
So ist der Eindruck des Buches zwiespältig. Die Analyse von Medien und Politik ist fundiert und der Leser erfährt viel Neues, alles was darüber hinausgeht, aber leider flach und zu den überraschenden Entwicklungen der letzten Zeit, dass sich Bürger plötzlich wieder für oder gegen etwas engagieren, dafür hat er keinen Sinn.
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