Reiche Mädchen. Erzählungen.
Silke Scheuermann, Schöffling Verlag, Februar 2005



"Immer vor Gewittern", sagte sie später, als sie am Fenster saßen, mit Aperitifs und Erdnüssen aus der Minibar, "immer vor Gewittern bist du am besten, das habe nun ausnahmsweise einmal ich herausgefunden", sie spielte mit der Fernbedienung, natürlich, sie mußte ausgerechnet in den trautesten Minuten ihrer Zweisamkeit mit dem Herumzappen anfangen und noch mindestens vier blonde Moderatorinnen, ein leukämiekrankes Kind, eine Millionärsehefrau und eine Horde verzottelter Demonstranten ins Zimmer zu holen. Zum Glück blieb sie einigermaßen schnell im dritten Programm hängen

Franziska hat es geschafft. Sie hat eine Stelle an der Universität, an der sie auch studiert hat, einen lieben Freund namens Timo und eigentlich findet sie, dass sie allen Grund zum Glücklichsein hat. Leider gibt es da Simon. Der ist verheiratet und ebenfalls an der Universität. Und immer wieder landen beide im Bett, immer wieder stellt sie ihm nach, ihr ganzes Leben stellt sie auf diesen Lover ein, verfolgt Vorträge, nur weil sie ihn dort treffen könnte. Im Bett liegen die beiden Haut an Haut, doch gleichzeitig liegen Lichtjahre zwischen ihnen.

Nicht grade neu, das Thema. Aber Silke Scheuermann versteht es, ihre Geschichte so intensiv zu erzählen, dass sie dem Leser so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht. Wir spüren, wie die Ich-Erzählerin ihrem Kollegen verfallen ist, ihr Körper sie treibt, die Sicherungen gesprengt werden und dann zum Schluss ...

Eine faszinierende Erzählung, die ein altes Thema ganz neu beleuchtet, perfekt gemacht, mit eindrücklichen Personen. Auch stilistisch kann diese Erzählung überzeugen, obwohl die Autorin den modernen, unaufgeregten Stil verwendet, der heute als "literarisch" gilt. Aber anders als die anderen Fräulein-Wunder, anders als die vielen Epigonen in Schreibseminaren und Diskussionsrunden beherrscht sie ihn und zeigt, dass auch in der Literatur, nicht anders als in der Medizin die Dosis das Gift macht.

Sechs weitere Erzählungen enthält das Bändchen.

- Von Lisa, die im Frankfurter Rotlichtviertel eine Verabredung, ein blind date hat, davon ihrer Freundin erzählt und diese wiederum lässt diese Erzählung Revue passieren, teilt sie dem Leser mit, macht sich ihre eigenen Gedanken und zum Schluss auch eigene Erfahrungen ("Lisa und der himmlische Körper")
- Von einem alten Ehepaar, der Mann längst in Rente und nun ein Blitzforscher, der hofft, dem Geheimnis der Kugelblitze auf die Spur zu kommen ("Die Umgebung von Blitzen")
- Von Nette, einem jungen Mädchen, das eine Wohnung bewachen soll ("Zickzack oder Die sieben Todsünden").
- Von dem Mann, dessen Frau fort ist und der für die Kinder seiner Schwester ein Puppenhaus baut ("Puppenwelt")
- Von der jungen Frau, die die Welt, die Geschichten ihrer Lover aussaugt ("Vampire")
- Von der jungen Frau, die eine alte Schulfreundin trifft, die immer mehr Kontakt zu ihr und ihrem Mann sucht. Bald vermutet der Leser eine Dreiecksgeschichte, aber dann ... ("die Übergabe")

Aber keine dieser Geschichten hat die Intensität der ersten, hat mich als Leser derart in den Bann geschlagen. Sie sind nicht schlecht geschrieben, nicht langweilig, aber es fehlt die Intensität, die Nähe, die Spannung der ersten und ich kenne jede Menge Erzählungen, die schlechter sind.

Die letzten Geschichte ("die Übergabe") wäre eigentlich sehr, sehr gut, eine scheinbare "Dreiecksgeschichte", die dann einen ganz eigenen Verlauf nimmt. Aber trotz anfänglicher Spannung fehlt ihr der Kick der ersten, was vermutlich an der gleichmäßigen Distanz liegt, aus der erzählt wird. Als Leser sehe ich quasi die ganze Zeit die Halbtotale, das, was die Erzählerin antreibt, bleibt im dunkel, erschließt sich mir nicht, dem komme ich nie nahe.

Ein ähnliches Problem hat auch die zweite Geschichte ("Lisa und der himmlische Körper"), die wir aus der Perspektive einer Freundin erfahren, die das ganze nicht erlebt hat und uns quasi gleich doppelt von dem Geschehen fernhält. Auch hier wäre ein Wechsel der Kameraeinstellung, der Nähe, wohl vorteilhaft gewesen. Denn auch diese Erzählung hat Potenzial, das meiner Meinung nach nicht völlig ausgenutzt wurde. Vielleicht ist sie einfach in den anderen Geschichten dem Irrtum so vieler aufgesessen, Literatur ist, wenn man die Personen aus immer der gleichen Entfernung schildert?

Klingt das etwas enttäuscht? Es ist es und ist es auch nicht. Denn allein die erste Erzählung wäre den Preis des Buches wert. Und auch die anderen sind nicht 08/15 im üblichen Sinne, haben aber handwerkliche Mängel, die dazu führen, das sie auf mich nicht den Zauber ausüben, wie die erste, wie "Krieg oder Frieden", eine Geschichte, die mir lange im Kopf herumgegangen ist. Möglicherweise würde in der Umgebung von "Krieg oder Frieden" auch jede andere Erzählung blass bleiben, einfach, weil diese so gut ist?

Fazit: Silke Scheuermann kann schreiben, gar kein Zweifel. Bleibt zu hoffen, dass sie durch das - sicher bald einsetzende - Lob nicht auf einer Erzählschiene festgehalten wird, nicht immer nur das Gleiche aufs Neue probiert.

Leseprobe

Über die Autorin: Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt in Frankfurt am Main. Sie studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Frankfurt, Leipzig und Paris und arbeitete am Germanistischen Institut der Universität Frankfurt. Neben Kritiken veröffentlicht sie Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien und erhielt mehrere Stipendien und Literaturpreise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt und zuletzt das Literaturstipendium in der Villa Aurora in Los Angeles. 2004 war sie im Mai/Juni mehrere Wochen Stadtschreiberin in Beirut (Libanon) und veröffentlichte darüber ein Internet-Tagebuch. 2005 ist Silke Scheuermann Dresdner Stadtschreiberin.
Sie hat zwei Lyrikbände veröffentlicht. REICHE MÄDCHEN ist ihr Prosadebut.

Reiche Mädchen, Silke Scheuermann, Erzählungen, Schöffling Verlag, Februar 2005
ISBN 3-89561-370-3, gebunden, 164 Seiten, Euro 18,40

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